Ein Arzt in einer kleinen Stadt. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754183816
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mochte Mitternacht sein. Der Schnee rieselte ganz leise und ganz weich von einem dunkel schwarzen Wolkenhimmel zur Erde nieder. In allen Häusern waren die Lichter bereits erloschen und alle Welt träumte in dem kleinen Städtchen. Sogar der Hund des Nachtwächters, der zu den Füßen seines Herrn im Schilderhäuschen lag, knurrte nur ganz schlaftrunken, als eine Frauengestalt, tief in einen Mantel eingehuscht, an ihm vorüber und nach dem Eckhause des Senator Wallfeld eilte. Der helle Ton der Klingel, welche Dr. Franke dort schon hatte befestigen lassen, schallte über den ganzen Markt und weckte alle Hausbewohner, nur eine einzige nicht, denn diese – Jakobine – hatte nicht geschlafen. Sie saß beim Scheine einer kleinen geschirmten Lampe, deren Licht nicht nach außen dringen konnte, und spann. Der Ofen war noch warm und im Zimmer wehte eine weiche reine Luft, durchwürzt von Rosendüften. Ein paar ungeheure Blumenkübel standen an dem einen Fenster und darin grünte dem Winter zum Trotze Myrthengesträuch so groß und so dicht, dass es einen Schirm vor dem Fenster bildete. Ein weißes Kätzchen lag schnurrend auf einem Kissen in der Nähe des Ofens und an der Wand hing ein von einem schwarzen Schleier verdecktes Bild.

      Als der scharfe Ton der Klingel erschallte, fuhr die Bewohnerin dieses einfachen Gemaches von ihrem Sitze empor, errötete so stark, dass selbst die bleiche feste Stirne noch einen Rosenschimmer annahm, erbleichte dann und setzte sich langsam und traurig wieder nieder.

      »Törin«, flüsterte sie leise vor sich hin, »die immer noch auf eine Erscheinung hofft, die nie wiederkehren wird. Dein Messias ist, wie der der Juden, einmal dagewesen und kehrt nicht mehr zurück.«

      Die Klingel ertönte von Neuem, sie besann sich:

      »Jemand sucht um Mitternacht den Arzt, – ich will aufmachen, ich darf mich ja nicht sehen lassen«, dachte sie und schlüpfte mit unhörbaren Tritten die Treppe hinab, öffnete und stellte sich hinter die Türe. Sie erkannte das Dienstmädchen aus dem Hause der Rätin Baum, und trat vor, um zu fragen, was bei ihrer Herrschaft geschehen sei.

      »Ach Jesus, Fräulein Wallfeld«, sagte die Kleine, »unser Herr ist wieder krank, sehr krank, und Madame möchte den neuen Arzt um Rat fragen, vielleicht nur um einen Mann neben dem Rasenden zu haben. Die arme Frau! Das ist doch eine Kreuzträgerin und ein Gottesengel.«

      »Geh’ hinauf zum Doktor«, entgegnete Jakobine die blassen Hände faltend; »Gott führt und prüft die Seinen wunderlich«, damit kehrte sie sich ab und schritt weiter in ihr stilles Stübchen zu ihrem Spinnrocken, der leise schnurrend ihren trüben Gedanken accompagnierte.

      Wenige Minuten darauf eilte Doktor Franke mit seiner Führerin durch die schlafenden Straßen und stand bald vor dem Hause, in dem man vor wenigen Tagen seine Visite nicht angenommen. An der Türe empfing ihn eine Dame, die eine Wachskerze in der Hand trug. Franke sah sie an, ein Blick genügte, um ihn zu überzeugen, dass er vor einem der seltensten weiblichen Geschöpfe stand.

      Beschreibungen müssen aber schon immer eine längere Zeit mitnehmen, wenn sie eine entsprechende Vorstellung von der Person erwecken sollen, die man vorzuführen beabsichtigt. Die Rätin Baum war groß, schlank und bleich; ihr Haar von einer seltenen Fülle, dunkelblond und leicht gelockt, und gab einen Kopf von plastischer Schönheit mit reichen, weichen Flechten. Ihr Auge von unbestimmbarer Farbe hatte jenen tiefen dunkeln Glanz, der an facettierten Stahl erinnert, und um Mund und Nase lag ein Ausdruck sanfter Festigkeit.

      Ihre Stimme zitterte, als sie nach einem leisen Willkommen den Arzt bat, in ein Vorderzimmer zu treten, in das sie ihm voranging.

      Dort heftete sie einen langen Blick auf ihn und sagte mit einem leisen Seufzer:

      »Sie sind noch sehr jung, Herr Doktor.«

      Franke lächelte.

      »Es ist ein Unglück für einen Arzt, kein ehrfurchterweckendes Äußere zu haben. Vielleicht aber gelingt mir's mit Hilfe der Zeit, mir das freundschaftliche Vertrauen meiner Mitbürger zu erwerben, da ich auf das Ehrerbietige noch lange keine Ansprüche machen kann.«

      »Verzeihen Sie, Herr Doktor, meine Äußerung; ich bin im Begriffe Ihnen einen tiefen Blick in das Innere meines Familienlebens zu gestatten und da ist's wohl natürlich, dass ich lieber einem Greise als einem sehr jungen Manne gegenüber zu stehen wünsche.«

      »Gnädige Frau, wenn schmerzliche Erfahrungen geistige Reife geben, so bin ich wenigstens kein Jüngling mehr; auch ich habe gelitten, und wenn Sie mir ein schmerzliches Familien–Geheimnis mitzuteilen haben, so werden Sie in mir, außer dem besten ärztlichen Rate, den ich zu geben weiß, gewiss die auf richtigste Teilnahme finden.«

      »Wohlan«, sagte Madame Baum, »mir bleibt keine Wahl; da es sich um Leben und Tod handelt, muss ich jetzt traurige Verhältnisse offenbaren, die ich bisher geheim halten konnte.«

      »Rechnen Sie auf meine Teilnahme und Diskretion«, entgegnete der Arzt ermutigend.

      Sie stützte den Kopf auf die Hand und sah trübe vor sich nieder.

      »Ich bin, mein Herr, seit fünfzehn Jahren verheiratet.«

      Unmöglich! wollte Franke sagen, aber er besann sich und verschluckte das Wort, das nur zu leicht wie eine Betise hätte klingen können.

      »Meine Verheiratung erlöste mich aus sehr drückenden Verhältnissen, ich war ein blutarmes Mädchen und machte, wie man zu sagen pflegt, ein großes Glück. Mein Mann liebte mich sehr, er war mehrere Jahre älter als ich. – Er war reich, sein Herz ist gütig und liebevoll, er besitzt einen reifen Verstand. Nur ein bedeutender Charakter-Fehler, oder lieber eine Schwäche, entstellt und besudelt den Mann, der mein Gatte und meiner Kinder Vater ist. Er ist – nun ja, es muss gesagt werden – er ist ein heimlicher Trunkenbold. – Aber was der Welt auch verborgen blieb, der Gattin konnte es nicht verborgen bleiben. – Herr Doktor, ich habe alle meine geistigen Kräfte angestrengt, um den Unglücklichen von der Fessel seines Lasters zu erlösen. Umsonst! Seit drei Jahren leidet er an einem zeitweisen Wahnsinne, der jetzt so arg ist, dass ich durchaus die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen muss, die ich bis dahin von ihm ferne hielt. Wollen Sie den Unglücklichen jetzt sehen?«

      Franke erhob sich.

      Er war tief erregt von den Mitteilungen der Frau, die dem Arzte und Psychologen ein eigentümliches und sehr trauriges Gemälde aufrollten. Sie gingen durch einige Zimmer, die alle den Charakter häuslicher Behaglichkeit hatten, und blieben endlich an einer Türe stehen, durch deren Schlüsselloch ein heller Lichtschimmer fiel. Frau Baum legte die Hand auf den Drücker und warf einen festen Blick auf den Arzt, bevor sie öffnete und ihn eintreten ließ. Eine Lampe brannte an der Decke in sehr bedeutender Höhe und beleuchtete einen Schauplatz wilder Zerstörung.

      Der Kranke, ein großer Mann, lag auf einem Sofa. Er war völlig gekleidet, aber aus der Weste bauschte sich vorne das Oberhemd hervor und hing in ein paar langen Fetzen über das Beinkleid nieder. Ein paar Stühle lagen in Trümmern am Boden, ein Tisch war umgeworfen und eine darauf stehende Wasserflasche zerschlagen, so dass das Wasser über die Dielen floss. Der Leidende musste eben einen Paroxysmus gehabt haben, der seine Kraft erschöpft, denn er lag regungslos, totenbleich, mit klappernden Zähnen und halbgebrochenen Augen.

      Frau Baum trat zu ihm, ergriff seine Hand und sagte mit sehr sanfter Stimme:

      »Allwin!«

      Er hörte sie nicht, seine Brust begann zu fliegen, seine Hände zitterten. –

      »Allwin!« wiederholte die Gattin.

      Er schüttelte das wirre Haupt, dessen Haar schon stark ergraut war, und stöhnte endlich:

      »Lass' mich, lass' mich nur, Maria.«

      Sie kniete neben ihm nieder und schob ihren Arm unter seinen Kopf.

      »Geh‘! Geh‘fort, geh‘gleich«, sagte er mit röchelnder Stimme.

      »Lass' das Tier auf der Landstraße verenden, wo es hingehört, wer kümmert sich um eine sterbende Bestie.«

      »Allwin!« sagte sie noch einmal.

      »Genug, genug«, heulte er, »was willst Du von mir. Was hilft mir all’ Deine Güte, all’ Deine Freundlichkeit; ist das eine Möglichkeit,