Ein Arzt in einer kleinen Stadt. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754183816
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Glasketten stak in einem Sack von Gaze. Gehäkelte und filierte Decken lagen auf den Mahagoni-Tischen und Kommoden, ein Teppich von fabelhaft hässlicher Stickerei vor dem Sofa am Fußboden, und an den Wänden hingen zwei Portraits in halber Figur lebensgroß, ein Herr und eine Frau, beide im höchsten Gala einer veralteten Mode, die Dame mit Locken, wie sie Henriette Sontag in der Oper »der Schnee« zu tragen beliebt hatte, der Herr im Klappenfrack.

      Der Fremde hatte das Licht ergriffen und beleuchtete die seltsamen Gesichter, die ihm beide gleich steif altfränkisch und schüchtern erschienen und ihm mit fast lebendigen Augen entgegenblickten. Es war auffallend schöne Malerei an den Bildern, die Gesichter hatten Leben, der Atlas im Kleide der Dame glänzte und die blanken Knöpfe am Rocke des Herrn schienen das Licht in der Hand des Beschauers widerzuspiegeln.

      Dieser, ein nicht gewöhnlicher Gemäldekenner, fühlte sich gefesselt durch die beiden Bilder. – Er hatte große Reisen gemacht und des Schönen auf der Welt nicht wenig gesehen. Den Sommer sogar, der dem Winter voranging, welcher jetzt eisig über der Erde lag, hatte er teils in Rom, teils in Florenz zugebracht, und er war bekannt mit den meisten lebenden Künstlern. Die Art der Malerei schien ihm nicht fremd zu sein; die humoristische Auffassung der steifen altfränkischen Haltung jener beiden Personen, der belebte Blick, die freie und natürliche Haltung der Hände – alles erinnerte ihn an die Auffassungsweise eines Malers, dessen seltsamer Charakter und trauriges Geschick in ihm einst die regste Teilnahme erweckt hatten. – Seine Gedanken eilten weit weg nach Welschlands Fluren und er merkte es nicht, dass durch eine Tapetentür das Original des männlichen Portraits indes eingetreten war. Der Hausherr – und als solchen dokumentierte er sich – war zwar wohl um fünfzehn Jahre älter als sein höchst getroffenes Bild, aber er war ebenso steif, ebenso altfränkisch als dasselbe, und seine stahlgrauen Augen blickten ebenso schüchtern und klug in die Wirklichkeit als auf der Leinwand.

      »Ich habe die Ehre, den Herrn Doktor Franke vor mir zu sehen«, fragte er den Gast, »unseren er warteten Herrn Kreis-Physikus?«

      Der Fremde bejahte.

      »Mein Neffe, der Postsekretär Walter, sagte mir, dass sie beabsichtigen, eine möbelierte Wohnung für einige Zeit zu mieten und dass er sie auf die unsrige aufmerksam gemacht habe?«

      »Ich würde mich freuen, Ihr Hausgenosse werden zu können.«

      »Viel Ehre, mein Herr Doktor, es steht der Sache nichts im Wege, wenn Ihnen die Gelegenheit nicht zu klein ist. Wir wohnen an der Ecke des Marktes und der Hauptstraße, ziemlich in dem belebtesten Punkte unseres Städtchens. Die Zimmer sind gelüftet und sie können, wenn dieselben sich Ihres Beifalls erfreuen sollten, gleich hierbleiben.«

      Doktor Franke war dies wohl zufrieden und der Hauswirt führte ihn in ein Nebenzimmer, an das ein Schlafkabinett stieß und erklärte, dass dies die Räumlichkeiten wären, die ihm zu Gebote stünden. Man einigte sich über den Mietspreis, Feuer ward in dem Ofen angezündet, ein Dienstmädchen in reinlicher Kleidung machte sich mit Abstauben, Bett überziehen usw. eine halbe Stunde zu schaffen, dann brachte sie auf des Doktors Wunsch Teegeräte und holte sein Reisegepäck von der Post ab, und nach einer Stunde saß Franke gemütlich neben dem Ofen in seinem Schlafrocke von violettem Samt, trank Tee und blätterte in einer Zeitschrift, die er mitgebracht hatte.

      Es lag eine eigene Ruhe und Behaglichkeit in der kleinen Wohnung, die der junge Doktor für den Augenblick die seine nannte. Die Reise war angreifend gewesen, der Wind pfiff in den Kaminen und rüttelte an den Doppelfenstern. Im Hause dagegen war alles still, kein Türewerfen, kein Klavierklimpern, weder Tellergeklapper noch Menschenstimmen unterbrachen die Gedanken des Fremdlings, der sich wie in einem leichten Traum befangen vorkam. Also hier sollte er sein Leben zubringen, hier in dieser Abgeschiedenheit, fern von der Bildung und dem geistigen Streben der Residenz, fern von Freunden und Bekannten, ohne Kunstgenüsse, wahrscheinlich ohne passenden Umgang, denn was konnte das Städtchen, dessen Einwohnerschaft größtenteils aus Tuchmachern besteht, ihm für Umgang bieten? Pflichten! Berufspflichten! Menschenpflichten! Harte, ungewohnte Begriffe für den Jüngling, der bis dahin in der Ungebundenheit, die der Reichtum der Jugend gewährt, gelebt hatte.

      Doktor Franke war ein einziges Kind. Sein Vater galt für einen reichen Bankier, lebte in der Residenz und machte ein großes Haus. Er war von jüdischer Abkunft – man wusste nicht genau, ob er und seine Gattin sich taufen ließen oder nicht. Jedenfalls wurde der Sohn im christlichen Gymnasium unterrichtet und zur rechten Zeit konfirmiert. Der junge Franke galt für einen talentvollen Knaben, er machte den Gymnasial-Kursus in unglaublich kurzer Zeit durch, war mit siebzehn Jahren Student und hatte mit einundzwanzig sich bereits das Recht erworben, seinem Namen die Buchstaben Dr. med. vor oder nach zu setzen.

      Auf der Universität hatte er die Bekanntschaft eines den vornehmsten adeligen Familien Altpreußens angehörenden Jünglings gemacht, und Franke und der Graf Gräben beschlossen ihre Reise zusammen zu machen. Die Väter hatten nichts dagegen. Herr Franke fühlte sich jedenfalls geschmeichelt durch die vornehme Freundschafts-Verbindung seines Sohnes, während Gräbens Vater Wohlgefallen an dem jugendlichen, sehr hübschen, munteren und witzigen Gefährten des seinigen fand. So durchstreiften die Jünglinge zusammen Deutschland, England und Frankreich, bestiegen zusammen die Alpen, lebten drei bis vier Winter miteinander in Rom, Florenz oder Neapel. Schifften sich nach Algier ein und durchzogen Griechenland, waren einen Sommer lang in Spanien und einen andern in Schweden. Sie hatten sechs Jahre auf ihren Reisen zugebracht und fest beschlossen, noch einen Abstecher nach Amerika zu machen. Da wurden eines Tages in Spalato Frankes Wechsel nicht mehr honoriert und am nächstfolgenden brachte die Post ihm die Nachricht, dass sein Vater bankerott gemacht. Sechs Stunden darauf mit dem nächsten Bahnzuge kam ein Brief seiner Mutter, der erste, den er sich erinnern konnte von dieser Dame, die immer noch sehr elegant und sehr schön war, erhalten zu haben. Es war schwer bei den Eigentümlichkeiten ihrer Orthographie und Handschrift den Sinn desselben zu entziffern, dennoch fasste ihn Franke nach einigem Studium auf – sein Vater hatte sich den Hals abgeschnitten! –

      Von seinem Reisegefährten, der ihn herzlich bedauerte, borgte Franke sich das Geld zur Heimkehr. Als er in Berlin anlangte, war sein Vater begraben, sein Vaterhaus in der Stadt und die Villa im Tiergarten bereits verkauft und seine Mutter wohnte zur Miete in zwei kleinen Zimmern in der Taubenstraße. –

      Seine Mutter! War die alte, zusammengefallene Frau im schlumpigen Kattun-Überrock wirklich seine Mutter? Ein und dieselbe Person mit der stattlichen feinen Dame, die er in Seide und Blonden, oft strahlend von Edelsteinen zu sehen gewohnt war? – Sie war es, kein Zweifel, sie machte noch die alten Sprachfehler, sprach noch so rasch, so unzusammenhängend wie sonst und überhäufte ihn noch wie sonst mit Liebkosungen und Liebesworten! – Die Persönlichkeit war dieselbe, nur die Übergoldung der Statue war vom Wetter des Geschicks abgeschlagen worden.

      Franke war ein Mann und bewährte sich als solcher, indem er sich von dem Wechsel seines Schicksals nicht niederschlagen ließ. Er litt darunter, aber er fasste sich und übersah seine Lage mit ruhigem Blick. Sein Reichtum und alle Vorteile, die er ihm gewährt hatte, war ihm geraubt, seine Jugend, seine Gesundheit, seine Kenntnisse waren ihm geblieben; Mut und Kraft wollte er sich selbst bewahren. Er fühlte, dass die Verpflichtung, seiner Mutter ein sorgenfreies Alter zu sichern, auf ihm lag. Er hatte Tausende, viele Tausende mit jugendlicher Sorglosigkeit verschleudert, nie war der Gedanke ihm aufgestiegen, dass er jemals auf seine eigene Kraft allein gewiesen werden könnte und er wusste nicht, wie weit diese Kraft möglicherweise reichen könne.

      In der Residenz zu bleiben hielt er für untunlich. Hier hatte man seine Familie als reiche Leute gekannt, mehr als ein nur mäßig Bemittelter hatte die Frucht seiner Ersparnisse durch den Bankerott seines Vaters hier verloren. Der Gedanke, Leuten zu begegnen, die in ihm den Sohn eines Mannes kannten, der sie um das Ihrige gebracht, war ihm unerträglich. Der Anblick des Hauses, in dem er als Kind gespielt, in dem an jedes Winkelchen sich für ihn Erinnerungen knüpften, erregte ihm peinliche Schmerzen. Auch würde er in der Residenz schwerlich so bald ärztliche Praxis erworben haben, und von dieser musste er leben und eine Mutter ernähren. Fort musste er und die Nachricht, dass das Kreisphysikat in Hermstädt erledigt sei, machte ihn zuerst auf das Örtchen, dessen Namen er bis dahin nicht gekannt hatte, aufmerksam. Er schlug Meinekes Geographie auf und fand da folgende Notizen:

      »Im