Aus dem kalten Schatten. Christine Bendik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Bendik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754173725
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schlecht und sie wankte zur Tür. Beim Öffnen blickte sie in Joe Wisemans Augen: tintenblau und unergründlich wie der Brant Lake. Wie üblich meldete sich, flüchtig, dieses nicht tot zu kriegende Gefühl von Heimat bei seinem Anblick, von unbeschwerter Kindheit, von »Barfuß im Regen« und einer »bunten Tüte« vom Kiosk. Und das, obwohl sie sich erst vor zehn Tagen in Mailand zu einer Session getroffen hatten.

      »Hi, Joe«, murmelte sie. »Komm doch rein.« Er drückte ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Wange und ein Präsent in die Hand, unter dessen Stanniolverpackung sie eine preisgünstige Lidschattenpalette vermutete – irgendein Werbegeschenk. In puncto Geschenken hatte Joe nie viel Einfallsreichtum an den Tag gelegt, schon damals nicht, wenn er mit den selbst gepflückten Blumen aus den benachbarten Vorgärten zum Kindergeburtstag erschien.

      Mit spitzen Fingern schob er das eine oder andere Taschentuch beiseite, nahm auf der Bettkante Platz und blickte Jade an. »Wo warst du gestern Abend, Babe? Hab dich vermisst.«

      Jade legte die Schachtel mit der roten Schleife ungeöffnet auf die schmale Ablage des Schreibtischs und ging, an Joe vorbei, langsam zum Fenster. Durch die weißen Fadengardinen sah sie hinab zum Sidewalk, wo eng umschlungen ein junges Pärchen stand.

      »Jetzt bin ich ja hier«, murmelte sie. Sie drehte sich zu ihm um. Er lächelte zögerlich.

      »Flug verpasst? Kommst du direkt von zu Hause? Was macht mein Berlin?«

      »Wartet schon lange auf deinen Besuch«. Sie hatte es so leise gesagt, dass sie nicht sicher war, ob die Antwort zu Joe vorgedrungen war. Früher hatte er sie mehrmals im Jahr in ihrer Wahlheimat Deutschland besucht, aber mit der Zeit waren die Besuche spärlicher geworden. »Im Ernst, Joe!«, fügte sie an, diesmal schon lauter. »Mir ist gerade nicht nach Smalltalk.« Sie deutete auf ihn. »War das Avas Idee?«

      »Tut mir leid.« Er machte eine kurze Pause, nach Worten suchend. »Ich bin doch auch traurig«, sagte er. »Wir alle.«

      »… Wie sie da hing … das kriege ich nie mehr aus meinem Kopf«, hörte Jade sich murmeln.

      »Es tut mir so leid.«

      »Mir tut es leid für Suzan.«

      »Das hat sie echt nicht verdient.«

      Sie war selbst erstaunt über die Heftigkeit, mit der sie sich ruckartig wegdrehte. »Komm schon, Joe!«, fuhr sie ihn an. »Du hast Suzan so oft zum Teufel gewünscht …« Energisch presste sie ihren Rücken an das Fenstersims.

      »Meine engste Vertraute war Suzan nie, das gebe ich zu«, erwiderte der Gespiele aus fernen Kindertagen. »Aber so was wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Was denkst du nur von mir? Dass mir die Sache am Hintern vorbeigeht?«

      »Engste Vertraute? Kein gutes Haar hast du an ihr gelassen!« Wieder rollte eine Träne.

      Sein Mundwinkel zuckte leicht. Eine Hand hatte er seitlich in die Matratze gestemmt, die Beine von sich gestreckt. Die freie Hand hielt er ihr hin.

      »Kommst du mal her?«

      Sie betrachtete ihn: dunkle Stoffhose, helles Shirt, Bärtchen, Männerdutt. Eine blauschwarze Strähne zerschnitt seine Stirn. Die Sonnenbrille hatte er am Ausschnitt befestigt. Seine Haltung drückte Stolz und Selbstsicherheit aus. Er kannte seine Wirkung auf Frauen sehr genau, und an einem anderen Tag hätten sie sich längst geküsst.

      In ihrer Affäre ging es vor allem um Sex. Ein wenig vielleicht um die Vertrautheit aus Kindertagen, sogar bei Joe. Und es hatte bei Jade eine Zeit mit Schmetterlingen im Bauch gegeben. Die Erinnerung an noch weiter entfernte Tage zauberte ihr flüchtig ein Lächeln auf die Lippen. Sie waren einmal ein Team gewesen. Zusammen mit Joe Wiseman hatten Jades Bruder Flynn, ihre Schwester Serah und sie sogar Blutsbrüderschaft geschlossen – die vier vom Township, wie man sie damals nannte, bis das schreckliche Unglück passierte, die Duncan-Kinder auch noch ihren Vater verloren und Hals über Kopf aus Cherry Hill wegzogen, zu Pflegeeltern.

      Sofort wurde sie wieder ernst. Wie auch immer, es mochte ihn Überwindung gekostet haben, hier aufzutauchen. Joe war kein großer Redner, schon gar keine Stütze, wenn’s einem einmal dreckig ging. Er wollte das Leben locker und easy – das war immer schon so. Jade nahm darauf Rücksicht. Normalerweise. Dies hier war eine Extremsituation und Jade durchdrungen von Schrecken und Schmerz.

      Sie trat auf ihn zu. »Kannst du mich kurz in den Arm nehmen?«

      Er zog sie zu sich heran, an seine Seite, und sie schloss die Augen, doch die Bilder blieben präsent. Bilder von Suzan, dem Walk auf der Messe, und …

      »… einem Hochzeitskleid …«

      »Hochzeitskleid?« Joe stutzte.

      Ups. Da hatte sie wohl zu laut gedacht. Sie hatte das Kleid von der vergangenen Great-Bridal-Messe, das sie damals selbst getragen hatte, sofort wiedererkannt. Warum hatte Suzan es an? »Und warum nicht ihre normalen Klamotten?«, bohrte Jade weiter und starrte zu Boden.

      Joe fasste nach ihren Schenkeln, wo sich der Saum ihres bequemen Rockes wölbte, den sie gegen die Jeans eingetauscht hatte. Ein kaltes Prickeln durchfuhr sie. Alles, was sie gerade benötigt hätte, wäre eine Umarmung gewesen. Ein Zeichen des Mitgefühls. Eine liebe Kollegin, eine Freundin war tot …

      Gänsehaut überzog ihre Beine und sie drehte sich instinktiv weg. Joe entließ sie aus seinem Arm und murmelte aus dem Mundwinkel heraus.

      »Hör auf, dir deinen hübschen Kopf zu zerbrechen, das bringt doch nichts ein. Überlass das besser den Bullen.« Er nahm die Ray Ban vom Ausschnitt des Shirts und kaute auf den Bügeln herum. Jade erkannte eine gewisse Betroffenheit in seinen Augen und eine Portion Hilflosigkeit.

      »… und Margie ist das mit dem Kleid auch aufgefallen«, fügte sie trotzig an. »Sie meinte …«

      Mit zwei Fingern verschloss er ihr den Mund. »Mal was anderes: Ist noch von dem guten Hauswein im Kühlschrank?«

      Sie musste ihn angestarrt haben wie einen Einarmigen mit zwei Händen. Jedenfalls merkte sie, wie ihr Lächeln gefror. Wie konnte er einfach zur Tagesordnung übergehen? Oder war das seine unbeholfene Art, sie zu trösten?

      »Joe …«

      »Schluss jetzt«, entschied er. »Du wirst noch ganz krank davon. Also?«

      »Ja«, sagte sie schroff, »für mich bitte kein Glas«, und er stand auf, um den Wein zu holen. Sie wagte einen letzten Versuch.

      »Margie meinte«. Das war längst ein geflügeltes Wort in der Szene. Wer immer sich mit Sorgen plagte – Margie hatte eine Meinung dazu, stets zur »Hilfe« bereit. Sie war die Mutter Teresa des Lofts. Nur in neugierig und intrigant.

      Mit einem gut gefüllten Glas trat Joe auf Jade zu und hielt es ihr an den Mund.

      » … Zu mir meinte Margie«, fuhr er leise fort, »du bräuchtest dringend etwas Trost. Also?«

      Ihr war nicht klar, welche Frage noch offen war. Also Sex oder Also-was-meinte-Margie? Sie wendete ihren Kopf zur Seite, um dem Glas und dann Joes gespitztem Mund zu entrinnen. Sein Kuss landete, warm und feucht, auf ihrem Hals. Ein Mensch war gestorben, nein, mehr noch, viel mehr. Eine der besten Freundinnen, die ihr das Leben geschenkt hatte. Eine mit Tiefgang. Nichts vermochte ihr ihren Verlust so sehr zu verdeutlichen wie Joes oberflächliches Grinsen.

      »Also runter in die Bar«, erwiderte sie schnell. Rotwein war womöglich gerade nicht hilfreich. »Ein doppelter Bourbon wär jetzt gut.« Sie würde fortführen, was sie bei Ava begonnen hatte, und falls sie dann, mit genug Alkohol intus, noch dazu fähig sein würde, würde sie ihren Koffer packen, um keine Minute zu verschwenden. Um sofort nach den Shootings, am Ende der Woche, nach Hause, nach Cherry Hill, zu Flynn zu fliehen. Dorthin, wo sie aufgewachsen war und wo eine vertraute Gegend ihr ein Gefühl von Heimat vermittelte. Nur weg von hier, aus dieser Stadt. Von diesem Ort des Schreckens.

      Der Gedanke an ihren Halbbruder trieb ihr ein sanftes Lächeln auf die Lippen, während sie Joe den Flur entlang zum Aufzug folgte. Mom hatte Flynn mit in die Ehe gebracht und Daddy-one, wie Jade ihren Vater noch heute liebevoll nannte, hatte nie wirklich