Aus dem kalten Schatten. Christine Bendik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Bendik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754173725
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      »Suzan Wickles?« Margie zuckte mit den Schultern. »Hat sich heute noch nicht hier blicken lassen.« Die Brille war ihr auf einer feinen Schweißbahn hinab auf die Nasenspitze gerutscht. Ein Maßband hing um ihren Hals und ein paar bunte Stecknadelköpfe ragten wie winzige Luftballons aus ihrem Mund, sodass Jade ihr Nuscheln kaum verstand. Sie starrte sie einen Moment lang an, wartete, bis das Handy verstummte. Bestimmt war es wieder der Fremde. Er hatte es heute schon zweimal probiert.

      »Seltsam«, murmelte sie, mit trockenem Mund und ignorierte Margies fragenden Ausdruck, das Klingeln des Handys betreffend. »Suzan sagte mir noch … ich meine, hat sie nicht gleich noch einen Termin?« Ein Gefühl, dumpf und dunkel, breitete sich in ihr aus, wie eine düstere Ahnung oder – ein tiefes inneres Wissen?

      »So ist das mit den jungen Leuten«. Margie bastelte an der kleinen Schleppe von Serahs champagnerfarbenem Kostüm. »Zuverlässigkeit? Spießig. Pünktlichkeit? – Pah!«

      Jade, erleichtert über das Verstummen des Handys, trat in eine der Umkleidekabinen. »Die Rede ist hier von Suzan«, schickte sie empört nach draußen in Richtung Margie. Keine war so korrekt wie sie. »Hoffentlich ist sie nicht krank?« Sie merkte selbst, wie ihre Stimme kippte. Sie verließ die Kabine und reichte Margie den babyblauen Jumpsuit zum Lüften. Neben ihr ratschte ein Reißverschluss und Serah, auf einem Hocker sitzend, mit der Fleischmütze als Unterlage für eine Perücke und in ihrem engen Kleid, jammerte.

      »Ich werde ersticken in dem Teil.«

      »Es ist eine 36, eine Nummer mehr, als du sonst trägst. Soll ich vielleicht Stoff ankleben? Da passen noch ein, zwei Kilo locker rein. Ist doch nichts dran an dir. Wo ist dein Busen, dein Arsch?« Margies rabiate Seite. Aber Serah steckte so etwas weg wie »ein Tütchen Luft« – ihr eigens kreierter Spruch. Probleme existierten nicht und wenn doch, einfach aussitzen, bis sie von selbst verpufften.

      »Sag Suzan, ich warte in der Kantine auf sie«. Bevor Jade sich umwandte, warf sie Margie noch einen Luftkuss zu. Serahs Blick mied sie wie der Teufel das Weihwasser. Sie hatte nur beiläufig die neuen Tattoos registriert, die schon bis zur Halskuhle reichten. Kam jetzt das Gesicht an die Reihe, ging das Kunstwerk seiner Vollendung zu? Jade fand ja, dass noch ein Nasenring fehlte. An dem Ava oder Margie sie über den Catwalk führen konnten. Seit sie das Tattoo-Studio leitete, schien sie völlig durchzudrehen, was die Körperbemalung betraf. Serah, ihre um knapp ein Jahr jüngere Schwester.

      Jade öffnete die Tür. Die Gören im Hintergrund begannen zu quengeln. Wieso denn die eine unbedingt das rote Kleid tragen müsse, und die andere hätte das schöne blaue? Es passe so gar nicht zu ihrem Haar. Und nein. Eher würde sie in den Hudson gehen, als sich gleich im Salon ihre tolle Mähne in eine verfickte Kurzhaarfrisur umstylen zu lassen. Sie mache sich doch nicht zum Affen! Und so weiter und so fort. Jade war froh, als sie endlich draußen stand.

      Ava kam ihr entgegengeeilt, in anthrazitfarbenem Overall aus weicher Mikrofaser, pinkfarbenem Seidenschal und mit falschen Wimpern, Marke extradicht.

      »Sie ist weg«, rief sie händeringend aus. »Verschollen.« Sie seien vor einer halben Stunde schon verabredet gewesen. Sie habe überall nach Suzan gesucht, sie sei im ganzen Haus nicht auffindbar.

      Erneut wählte Jade Suzans Nummer, verschickte eine SMS – nichts.

      »Ihr seid doch befreundet.« Avas Stimme kippte. »Hat sie irgendwas gesagt, eine kleine Verspätung …«

      »Tut mir leid.« Jade und Ava starrten einander für eine lange Sekunde an. Sie wussten beide, dass Verspätungen fürs Geschäft tödlich waren. Wie sie auch wussten, dass Suzan nicht der Typ war, der leichtfertig einen wichtigen Termin verpasste.

      Und als wäre das nicht genug der Sorge, surrte erneut Jades Handy. Automatisch stieg ihr Puls, als sie das Ding aus der Tasche zog, um es auszuschalten. Sie brauchte gar nicht erst auf das Display zu schauen, sie wusste, wer da anrief: ein schräger Typ namens »Unbekannt«. Der sie auf Schritt und Tritt zu verfolgen und zu beobachten schien.

      Ein ganz schreckliches Gefühl stieg in ihr auf: Ungewissheit, gepaart mit Angst. Avas besorgter Gesichtsausdruck, die vermisste Suzan, der Anrufer. Das alles machte etwas mit Jade. »Da ist was Schlimmes passiert«, murmelte sie. Und da hörten sie auch schon die Sirenen.

      New York/Little Italy

      Montag

      Paul Stroud

      »Schneidet ihm endlich den Schniedel ab!«, rief ihnen noch eine genervte Männerstimme aus einer anderen Wohnungstür hinterher. Dann folgten Bureau Chief Paul Stroud und sein Kollege Craig Murdock dem Mann in dem erdbeerroten Lederslip in sein Wohnzimmer, wo schon sein weibliches Gegenstück in einem schwarzen Body wartete. Handschellen baumelten an seinem Handgelenk und eine Kippe hing halb aufgeraucht in seinem Mundwinkel.

      Paul nahm seine Hand vom Holster, in dem die »Smith & Wesson« auf ihren Einsatz wartete. Das hier sah ihm eher nach einem der üblichen, fruchtlosen Einsätze aus, die er von früher kannte. Die Wohnung gab keinerlei Hinweise auf einen »Ehekrach« her, das Wohnzimmer war ordentlich aufgeräumt, in den Schränken und auf den Regalen Nippes und Plastikblumen in Glasvasen. Ein paar Folterwerkzeuge lagen, ordentlich sortiert wie ein OP-Besteck, auf dem Wohnzimmertisch.

      »Mister Sower«, sagte er. »Uns liegt Meldung vor über häusliche Gewalt.«

      »Unsinn. Wir tun es nie ohne Codewort, ehrlich. Meine Sugar braucht nur ´Aus, Sugar` sagen, und Schicht ist im Schacht.«

      Das weibliche der beiden Zuckerstücke, in seinen frühen Vierzigern, nickte heftig, ohne den Blick von Sower zu lassen, und Paul hatte Schwierigkeiten, der glimmenden Kippe auszuweichen, als Sower sich ihm in einer vertraulichen Weise näherte. Scharfer Schweißgeruch stieg Paul in die Nase.

      »Ich könnte meinen Arsch verwetten«, geiferte Sower, »dass ich die Petze kenne.« Mit dem gereckten Kinn zeigte er Richtung Hausflur. »Der Alten sollte man’s mal so richtig besorg…«

      Ehe er blumig ausschmücken konnte, holte Craig tief Luft und wandte sich an die Frau.

      »Mrs Sower?« Paul konnte nur hoffen, dass der Kurze, wie er ihn liebevoll nannte, nicht ausfallend wurde, aber meistens hatte er sich im Griff, und das Motto der New Yorker Polizei lautete schließlich: Höflichkeit, Professionalität, Respekt.

      »Bessere Hälfte? So gut wie«, gab Sower an ihrer Stelle Antwort. »Es ist Marybeth. Kommt regelmäßig zum Abendessen vorbei.«

      So nannte er das also. Erst jetzt betrachtete Paul sie näher. Die Frau mit dem olivfarbenen Teint sah verhärmt aus. Die lang gezüchteten Haare wuchsen nur spärlich und es fehlte an Glanz, und wo sonst der Eckzahn links oben saß, klaffte ein schwarzes Loch.

      Bilder von New Yorks nächtlichen Straßen kamen Paul. Von Menschen, die sich um Tonnen scharten und die Hände über ein wärmendes Feuer hielten. Und er dachte an diese Stadtstreicherin – wie hieß sie noch gleich? Manchmal hatten sie ein paar freundliche Worte gewechselt. Sie hatte ihn angerührt, mit ihren traurigen braunen Augen. Und hatte sie nicht ein Kind? Mit den Jahren hatte er hilflos mit ansehen müssen, wie sie dem Alkohol verfiel. Wie Marybeth verdiente sie sich ein Zubrot durch Hausbesuche. Ob sie noch lebte? … Falls die Leber mitgespielt hatte …

      Er merkte, dass er Marybeth anstarrte, und blickte schnell weg, und während Craig eine Notiz in sein Smartphone tippte, die den Sachverhalt seines Einsatzes hier in Stichpunkten festhielt, trat Paul bereits wieder zur Tür. »Kleiner Tipp meinerseits«, sagte er noch. »Künftig auf die Lautstärke achten. Dann klappt’s auch mit den Nachbarn.«

      »Leute gibt’s«, murmelte Craig, als sie im Wagen saßen. Paul zuckte mit den Schultern.

      »Ich fand die beiden ganz niedlich, im Vergleich zu den Messerstechern und Vergewaltigern.« Delikte, deren Anzahl sich pro Jahr in New York im vierstelligen Bereich bewegte.

      »Ehrlich?«, moserte Craig indessen. »Das Zuckerstückchen würde ich nicht mal mit der Beißzange anfassen. Die war doch mindestens vierzig.«

      »Merkst