Sie sah ihren Bruder Flynn und seinen Freund Joe aus der Nachbarschaft, Serah und sich selbst vor sich, das unzertrennliche Kleeblatt des Viertels. In den weit aufgerissenen Augen der Mädchen das lichterloh brennende Abbild der katholischen Kirche St. Ignatius Loyola. Und sie hörte noch ihre eigenen verzweifelten Rufe. »Daddy! … Dada! …« So hatte sie ihre Nanny, Dara, genannt. Wie sie ausgesehen hatte, das war eines der wenigen Dinge, an die sie sich deutlich erinnerte: braune Augen, braunes Haar und ein olivfarbener Teint, fast so dunkel wie Jades Ankleidepuppe.
Der Alarmton stoppte. »Was ist denn passiert?«, fragte Jade ein Mädchen, das von draußen hereinkam. Ihre Knie zitterten immer noch.
»Sie haben … irgendwas mit Suzan Wickles … ehrlich? Keine Ahnung. Jemand hat wohl den Alarmknopf gedrückt.«
Jade spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. »Kein Feuer?« Das Mädchen zuckte mit den Schultern und ging weiter. Selbst von Brandgeruch war keine Spur, auch wenn seit Wochen derartige Trockenheit und Hitze herrschten, dass man auf den Kühlerhauben Spiegeleier braten konnte.
Aber … und das drang erst jetzt zu ihr vor: Was hatte das Mädchen gesagt – mit Suzan sei etwas passiert? Jade spürte, wie ihr Hals eng und ihre Hände kalt wurden. Zwei Feuerwehrleute bewegten sich Richtung Hauseingang, und Ava kehrte mit ihnen, kreidebleich, ins Gebäude zurück. Sie sah Jade nicht in die Augen, als sie an ihr vorüberging.
»Ähm, Jadie … für dich gibt’s hier heute nichts mehr zu tun«, murmelte sie, mit dem Blick krampfhaft am Boden. »Fahr nach Hause. Wir telefonieren.« Sie konnte Jade nichts vormachen. Ihre monotone Stimme … und Suzan … was war hier los?
»Wohin gehst du?«, wollte sie wissen und heftete sich Ava und den Männern frech an die Fersen.
»Verschwinde, Jade!« Wenn Ava unter Druck war, konnte sie irgendwie … gewöhnlich werden.
»Einen Teufel werd ich! Rede mit mir! Was ist mit Suzan?«
»Ist wirklich kein schöner Anblick«, warnte Ava sie noch, aber dann gab sie, selbst reichlich genervt, den Widerstand auf und ließ es geschehen, dass Jade ihr in den Innenhof folgte.
9:10 Uhr
Die plötzliche Konfrontation raubte ihr fast den Verstand. Für einen Moment schwankte sie und war einer Ohnmacht nahe. Zwei Schritte vor Suzans Leiche war sie wie angewurzelt stehen geblieben, weil sie Angst hatte, sie zu berühren oder ihrem starren Blick hautnah zu begegnen. Weil ihr das vielleicht die letzte Hoffnung nahm, dass das hier nur ein böser Traum sein könnte.
Jade merkte, wie wieder ein Zittern durch ihren Körper ging und sie schlug die Hände vor das Gesicht. Gestern noch, am Telefon, hatte Suzans freches Mundwerk nicht stillgestanden. Doch je länger Jade da stand, desto stärker drang die Wahrheit zu ihr vor. Suzans Schweigen hatte so etwas verdammt Endgültiges. Es machte Jade betroffen, dann traurig, dann wütend. So wütend, dass sie sie am liebsten bei den Schultern gepackt und »Hör-auf-mit-dem-Quatsch-das-ist-nicht-lustig« zu ihr gesagt hätte. Aber da stand schon Ava hinter ihr.
»Du kannst nichts mehr tun.« Worte, scharf wie Messerklingen, obwohl sie bemerkte, dass Ava selbst am ganzen Leib zitterte.
»Lass mich. Wir sind Freundinnen«, knurrte sie Ava an, die erstaunliche Kräfte im Umklammern ihres Armes entwickelte. Köpfe flogen zu ihnen herum, Blicke musterten sie. Da standen Leute, die Jade im Leben noch nicht gesehen hatte und Suzan ganz sicher auch nicht. Wahrscheinlich hatten sich viele aus dem Schuh- und Strümpfelager im benachbarten Häusertrakt hierherverirrt. Außerdem wurde Jade den Verdacht nicht los, dass sich hier doch einige von diesen verlausten Obdachlosen herumtrieben, mit denen Suzan ehrenamtlich zu tun gehabt hatte.
»Nun sperr dich nicht so«, beharrte Ava. »Sag ihr Lebewohl. Und dann lass uns hineingehen, Jadie. Die Polizei ist unterwegs, sie wird sich um alles Weitere kümmern.« Dann bot sie Jade ihren Arm an. Innerlich unbeteiligt, begegnete Jade noch vor dem Ausgang dem verstörten Blick eines Mädchens in dreckigen Jeans. Wo hatte sie sie schon gesehen? Egal. Alles war egal.
»Ich hätte es verhindern müssen«, murmelte sie, während sie den langen Flur entlanggingen. »Ich hätte sie beschützen müssen.« Jetzt war es zu spät.
»Unsinn, niemand ist schuld!«, schimpfte Ava, der sie folgte, mit tattrigen Schritten und dumpfem Schädel, ihre Hand in ihrer Armbeuge, wie ein Tanzbär an der Leine. Ob ihr unterwegs jemand Bekanntes begegnet war? Sie hätte nicht einmal einen weißen Elefanten bemerkt. Irgendwann, es war in Avas Büro und nach dem zweiten Bourbon, gingen bei ihr alle Schleusen auf. Sie schluchzte, bis ihr der Rotz aus der Nase lief. Suzan nicht wiedersehen. Nie mehr nervtötendes Gequengel. Kein Kuss, keine Umarmung, kein freudiges »Nice«.
»Warum«? Die Frage stellte nicht nur sie sich. Sie stand über den Köpfen aller, denen sie heute begegnet waren. Ava schenkte von dem guten Whiskey aus der sonst verschlossenen Bar nach. »Trink«, forderte sie Jade auf. »So ist es gut. Und jetzt rufen wir Joe an, Honey. Er wartet in der Kantine auf dich. Kaffee und Kuchen gehen heute aufs Haus.« Damit ließ sie Jade allein.
Als ob sie auch nur einen Bissen hinunterbrächte! Aber die Energie für den Widerspruch fehlte. »Joe wartet«, klang es in ihr nach, als sie Avas Schritte über den Flur hallen hörte. Natürlich wussten alle Bescheid über sie beide. In Wahrheit wussten sie nichts. Ava glaubte doch allen Ernstes, Joe würde Jades Tröster spielen! Kannte sie Joe?
Sie schüttelte den Kopf. Tat sie nicht.
9:25 Uhr
Etwas in ihr zwang sie, sich mit dem Stuhl, in den Ava sie gedrückt hatte, Richtung Fenster zu drehen. Durch die bodentiefen Fensterscheiben sah sie einen Polizeiwagen auf dem knapp bemessenen Parkplatz halten. Zwei Männer stiegen aus und Ava ging auf die beiden zu. Den einen, von gedrungener Gestalt und mit klaren, klugen Augen, beachtete sie kaum. Den anderen mit dem dunklen Schopf starrte sie wie elektrisiert an. Er hatte die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen und es war ein paar Jahre her, dass der Zufall sie noch einmal in sein Revier geweht und sie sich wiedergesehen hatten. Doch sie hätte ihn unter Hunderten wiedererkannt.
Aber nein, sie würde da jetzt nicht hingehen und ein paar Worte mit ihm wechseln. »Mach erst mal reinen Tisch«, hatte sie ihm damals empfohlen, als er sie um ein Date gebeten hatte. Er könne wiederkommen, wenn er frei sei. Ob sie dann noch auf ihn warten würde, würden sie sehen.
Scharf zog sie die Luft ein. Beinahe wäre er ihr wieder gefährlich geworden, doch sie war sich zu schade, um als Geliebte im Schatten zu stehen. Und falls er es ernst mit ihr meinte? Sie in seinem Leben willkommen hieß, anstatt im Wartezimmer der Gefühle? Das wäre fast noch tragischer gewesen. Eine feste Beziehung gab ihr Beruf einfach nicht her. Und Liebe, pah! Ihre Pflege-Eltern, Geza und Ray Guthrie, die sich nie mit vollem Herzen zur Adoption durchringen konnten, hatten als Vorbilder ganze Arbeit an ihr und ihren Geschwistern geleistet, wahlweise mit ihren bösen Zungen oder mit tagelangem, biestigem Schweigen. In ihrer Ehe hatten sie ihr täglich vor Augen geführt, was das Zusammenleben mit einem anderen Menschen bedeutete: Respektlosigkeit und seelischen Schmerz.
Ohne Concealer und Make-up und völlig verheult fühlte sie sich plötzlich nackt und bloßgestellt. Es war sicher eine gute Idee, augenblicklich die Beine in die Hand zu nehmen und von hier zu verschwinden, bevor sein Blick doch noch in ihre Richtung ging. Sie konnte und wollte jetzt mit niemandem reden und schon gar nicht mit ihm.
10:00 Uhr
Brooklyn, Williamsburg
Joe hatte sie nicht vorgefunden, das Gebäude in aller Eile verlassen und war mit dem Taxi ins Hotel gefahren. Weinend auf ihrem Bett kauernd, über dem ein Gedankenkarussell zu kreisen schien – aus lauter Wortfetzen bestehend: Walk, Hochzeitskleid, Blut, Mord und Suzan, liebe, gute Suzan … – fühlte sie sich einer Panikattacke nahe. Ihr Atem ging viel zu schnell und sie spürte Schweiß auf ihre Stirn treten. Wimmernd sah sie sich um. Ein Wall aus Taschentüchern flankierte sie und es war kein Ende des Weinkrampfes abzusehen. Sie war mit vielen Hoffnungen im Gepäck nach New York gekommen, und