»Es war der Hausmeister, Mr Faulkner«, erwiderte Ava. »Er sagt, er kann sich keinen Reim darauf machen, wie sie nach draußen gelangt ist. Vorder- und Hintertür der Halle waren sorgfältig abgeschlossen. Und nur Mr Faulkner und ich haben einen Schlüssel.« Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Rocktasche und hielt ihn den Beamten unter die Nase. Das hieß, der Täter musste sich hinter Avas Rücken einen Schlüssel verschafft haben.
»Ah, da ist ja Mr Faulkner!«, rief Ava aus und deutete auf den Mann mittleren Alters mit ausgeprägter Stirnglatze, der soeben zu ihnen trat. Er sah seine Chefin nicht an, als er sich den Beamten mit seinem Namen vorstellte.
»Bin noch mal in mich gegangen«, sagte er kleinlaut zu Paul. »Kleiner Nachtrag zum Thema Schlüssel. Ist schon einige Wochen her – also die Sache ist die: Margie hat jetzt auch einen.«
»Margie Fox, die Garderobiere?«
»Genau. Sie bringt manchmal Sachen zum Lüften raus. Sie glauben gar nicht, wie die Frau nerven kann: ´Wenn man Sie braucht, Faulkner, sind Sie verschollen. Wo treiben Sie sich bloß ständig herum? Vermieten Sie ihr Büro doch unter!` Was soll ich sagen? Seither ist Ruhe.«
»Sie haben – was? Faulkner! Ich glaube, ich höre nicht recht. Ohne es mit mir zu besprechen? Das gibt eine saftige Abmahnung, ist Ihnen das klar?«
Pauls Blicke flogen von Faulkner zu Ava. Es war ganz sicher eine gute Idee, die beiden Streithähne zügig zu trennen. Sollten sie doch später ihren Kleinkrieg unter vier Augen austragen. Die Art und Weise, wie sie miteinander umgingen, überzeugte ihn davon, dass zwischen Chefin und Mitarbeitern nicht immer eitel Sonnenschein herrschen dürfte. Wie hatte Ava wohl menschlich zu Suzan Wickles gestanden?
»Danke, Mr Faulkner, wir kommen dann später auf Sie zurück.« Stanton nahm Paul das Wort aus dem Mund. Faulkner sowie vor allem die festen Mitarbeiter von Ava Davi würden in diesen Tagen noch ein ausführliches Interview mit der Polizei haben, ob in den Ateliers oder auf der Dienststelle.
Die Leute waren in die Häuser gegangen und hatten Suzan ihrem letzten Date mit den Ermittlern überlassen. Paul, Craig und Ava waren Stanton zurück an den Tatort gefolgt.
»Miss Wickles Blut konzentriert sich auf sehr begrenzte Bereiche«, stellte Stanton fest, mit einer halbkreisförmigen, das Opfer und den Baum umfassenden Bewegung seiner Arme.
Paul nickte. »Die Messerattacke als Todesursache schließe ich aus. Das Wesentliche dürfte sich direkt hier an Ort und Stelle abgespielt haben.« Still betrachtete er die Tote. »Wahrscheinlich hat der Kerl sie bedroht, mit dem Dolch. Sie haben zusammen den Hof betreten. Oder war das Opfer vorher schon da? Das Mädchen musst noch gelebt haben, als der Kerl mit dem Dolch …« Aber das wollte er sich noch nicht einmal ansatzweise vorstellen. Endlich entledigte er sich der Handschuhe und ließ frische Luft an seine Haut.
»Was macht dich da so sicher?«, klinkte Craig sich ein.
Paul deutete auf den kleinen roten Fleck direkt unterhalb des Mädchens. »Sie hat kein Blut im restlichen Hof verloren, und sobald das Herz stillsteht, hört der Blutfluss auf. Ich wundere mich nur … Außer ein paar kleineren Blutergüssen an den Armen sind kaum Kampfspuren zu erkennen.« Der eine oder andere Zweig in der näheren Umgebung der Leiche war abgebrochen, doch das war es dann auch schon, was auf ein Gefecht hindeuten mochte.
Craig nickte. »Könnte auf eine Sedierung vor dem Tod hinweisen«, ergänzte er Pauls scharfsinnige Kombinationen. Paul nickte grimmig. Das hoffte er.
»Die Platzwunde seitlich am Kopf?«, fragte Craig.
»Womöglich ein Sturz, in letzter Sekunde. Aber warten wir den Bericht des Coroners ab.«
»Eins steht fest: Der Täter hat ein Faible für Theatralik«, meinte Stanton und in der Tat sah das Ganze aus wie die bühnenreife Inszenierung eines Thrillers. Der in diesem Hinterhof seinen Anfang genommen hatte. Suzan Wickles Teint schimmerte bleich im Sonnenlicht hinter blütenübersäten, doch noch blattlosen Zweigen des Jacarandas. Selbst jetzt, dachte Paul bitter, brauchte das Mädchen die Kamera nicht zu scheuen. Er wünschte, es wäre so, und Suzan gäbe nur die hübsche Leiche für »CSI New York« ab. Leider war das hier echt.
Stanton suchte Pauls Blick. »Ich teile deine Theorie. Sie muss noch gelebt haben, als der Kerl zustach.«
Erst als Ava aufstöhnte, wurde Paul klar, was sie angerichtet hatten. Ava war definitiv keine Kandidatin für die deutlichen Dienstgespräche. Ruhig, sachlich und diskret bleiben, egal was kommt. So wenig wie möglich preisgeben und nach außen dringen lassen. Die Basics lernte man früh im Beruf. Darin enthalten war bei Befolgung ein gewisser Eigenschutz vor den unberechenbaren Emotionen der Leute.
»Craig, würdest du bitte?«
»Klar, Chief. Kommen Sie, Mrs Davi, wir gehen schon mal rein.«
»He Boss?«, rief einer der jüngeren Ermittler von der anderen Baumseite her. »Ich hab da was für Sie.« Automatisch drehte Paul sich zu ihm um, nur um festzustellen: Er war gar nicht gemeint. Er spielte nicht mehr in dieser Liga, die Zeit als Detective war lange vorbei und er zum Bürohengst mutiert, zu einem, dem man die Fälle in schriftlicher und digitaler Form unterbreitete. Es stimmte, was Craig sagte. Man lebte weniger gefährlich. Doch im Grunde seines Herzens war Paul der Macher geblieben. Auch wenn er nur zufällig in die Sache hier hineingeschlittert war: Wie konnte er stillhalten und darauf warten, dass andere den Job erledigten, Beweismittel sicherstellten, Puzzleteil für Puzzleteil aneinanderfügten und den Täter dingfest machten?
Dass er in der Chefetage saß, lag nur an den Frauen. An Jade, die schon zu Uni-Zeiten nichts mehr von ihm hatte wissen wollen, sodass er sich neben belanglosen Frauengeschichten in die Arbeit gestürzt hatte. An seinem verstorbenen Töchterchen Florina, dem er ein besseres Leben hatte bieten wollen, als er es in seiner kargen Kindheit in Minnesota gehabt hatte. An seiner Ehefrau Mia, die der Kaufsucht erlegen gewesen war, gern schöne Kleider getragen, Gäste eingeladen und das Haus mit hübschen Dingen ausgeschmückt hatte, um die Tatsache zu verdrängen, auf welch dünnem Eis sich ein einfacher Cop wie Paul bewegte. Dass jeden Tag und jeden unbedachten Moment irgendein Irrer ein Messer zücken konnte …
»Ich muss dann«, sagte Stanton. »Halt die Ohren steif, Paul! Mrs Davi, Officer!«
Paul warf einen letzten Blick auf Suzan, um sich danach ebenfalls in Richtung Ausgang zu wenden und das Einsatzteam seine Arbeit machen zu lassen. Mehrere Männer waren mit der Bergung der Leiche mittels einer Bahre beschäftigt. Ein jäher Windzug ließ blau-lila Blüten auf ihr Haar regnen. Die Szene hatte etwas kindlich Verspieltes und gleichzeitig bot Suzan ein Bild des Schreckens und der maßlosen Grausamkeit.
Im Nest unter dem Vordach suchte er beim Verlassen des Hofes nach dem Goldzeisigjungen. Er hatte kein Glück. Das niedliche Ding hatte inzwischen wohl seine Flügel entdeckt.
Kapitel 3
Manhattan
Jade
9:00 Uhr
Vom Treppenhaus her kamen Stimmen auf, laut und erregt. Jade und Ava folgten ihnen in Windeseile und fanden sich gleich darauf im Erdgeschoss wieder. Feueralarm fegte durch die Flure wie ein wild gewordener Drache.
»Was verflucht …« Jade blieb keuchend stehen. Ava war hinausgeeilt, um mit den Feuerwehrleuten zu reden. Sich zitternd am Treppengeländer festhaltend, starrte Jade durch die Scheiben auf den Vorplatz. Zwei Einsatzwagen standen dort und irgendwo musste es brennen. Doch Jade sah nicht das geringste Flämmchen.
Zwei Mädchen rannten an ihr vorüber. »Endlich mal was los in dem öden Kasten«, sagte die eine ganz aufgeregt zur anderen. Jade aber schloss die Augen, um ruhigeren Atem bemüht.
Vermutlich hatte keiner von diesen Leuten hier je einen Brand hautnah miterlebt. Sie hatten ja keine Ahnung, was es mit einem machte, vor haushoch lodernden Flammen zu stehen, beißenden Rauch in den Lungen, Angst um sein nacktes kleines Leben.
Es gelang ihr nicht, die Bilder von damals zu vertreiben.