Der Kopf war auf ihre Brust gesunken und eine Haarsträhne hing ihr wirr wie ein Spinnennetz in die Stirn. Etwas Schwarzes klebte an ihrer Hüfte. Sah bei näherem Betrachten aus wie der Saugrüssel eines Falters.
»Gott, was für ein Baby!«, ging es Paul durch den Kopf. Ihr Schmollmund schien eben noch sagen zu wollen: »Ich will nach Hause, zu meiner Mom«. Was hatte Ava Davi erzählt? Gerade mal achtzehn? Kein gutes Alter, um mutterseelenallein um die Welt zu reisen. Um ständig auf Diät zu sein.
Um zu sterben.
Leichenflecke waren sichtbar, vor allem an den Beinen.
»Drei Messerstiche in der Herzgegend«, stellte Craig fest. »zentimetertief. Akkurat gesetzter Abstand. Messer – oder Dolch? Könnten symbolischen Charakter haben.«
Paul nickte. Um die Wunde herum sprossen rote Flecke auf dem Kleid wie ein Tintenbild. Auch aus Suzans Mund rann ein Faden bereits geronnenen Blutes, woraus Paul schloss, dass sie schon einige Stunden als Leiche hier draußen verbracht hatte.
Die Hitze des Tages staute sich innerhalb der Mauern und Paul tupfte sich mit einem Zipfel seines Taschentuchs den Schweiß von der Stirn. In seiner Hosentasche fand er zwei Paar Vinylhandschuhe, die er vorhin dem Handschuhfach des Streifenwagens entnommen hatte. Routiniert zog er sie über, unterdessen Craig erneut an die Vernunft einiger Hartnäckiger appellierte, doch bitte die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen und freundlichst das Feld zu räumen.
»Wissen Sie, wir sind sonst wenig bis gar nicht hier draußen«. Ava flüsterte fast. »Die Hoftür ist abgeschlossen. Die meisten Fotografen, mit denen ich zusammenarbeite, bevorzugen unser hauseigenes Fotostudio. Dabei sind die Lichtverhältnisse ideal. Und jetzt, wo der Baum so schön blüht … ein toller Hintergrund für ein besonderes Shooting.«
Sie zog ebenfalls ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich kräftig. Pauls Hände begannen in den sterilen Handschuhen zu schwitzen, während er vorsichtig die Leiter nach Spuren abtastete. Er meinte, vorhin einen ganz bestimmten Namen eines Fotografen aus Avas Mund gehört zu haben. Klar und deutlich stand Joe Wisemans Visage vor ihm: der Typ, der einfach die älteren Rechte gehabt und damals Jade frisch von der Uni weg entführt hatte. War der Wahl-New-Yorker hier vor Ort?
»Das geplante Shooting im Hof war also die berühmte Ausnahme?«, spann Paul den Faden weiter und fixierte Ava dabei. Ob dieser Ort unter freiem Himmel eine besondere Rolle bei der Tat gespielt hatte?
»Kommt nicht alle Tage vor«, antwortete Ava, »dass meine drei Besten … im Gesamtpaket …«
»Die da wären?«
»Suzan Wickles, Jade Duncan und Serah Conally. Letztere im Übrigen Jade Duncans Schwester.«
Paul nickte abwesend. Serah Duncan, wie sie damals noch hieß, hatte Jade ein paarmal von der Uni abgeholt, er erinnerte sich dunkel an sie: sehr dünn, sehr schüchtern und sehr korrekt in ihrer Art, in Richtung »verkniffen«. Ob das heute noch so war? Manchmal drehten sich Leute im Laufe ihres Lebens um hundertachtzig Grad – nicht nur rein äußerlich. Der schüchterne Lockenkopf, der viel zu lange an Moms Rockzipfel hing, wurde zum glatzköpfigen Draufgänger und die Rebellin, die auf jeder Demo gegen alles und jeden zu finden war, heiratete ganz spießig und kaufte ein Häuschen im Grünen. Serah, das war ihm noch präsent, hatte eine Ausbildung als Krankenschwester am Mount Sinai Hospital, unweit der Uni, absolviert. Dass sie Model geworden war, war ihm neu.
»Serah Conally«, wiederholte er. »Verheiratet?«
»Witwe. Ihr Mann, Marc Conally ist leider sehr jung und ganz tragisch verstorben. Lebensmittelvergiftung.«
Paul wechselte einen Blick mit Craig. Ava fuhr fort.
»Serah führt sein Tattoostudio weiter. Ziemlich erfolgreich, wie man so hört. Hier in New York.« Das erstaunte ihn dann doch. »Das heißt, das Modeln ist nicht ihr Hauptgeschäft.«
Paul reizte es, die Leiter hochzusteigen zu dem toten Mädchen und den Tatort aus anderer Perspektive zu betrachten. Er unterließ es, um nicht unnötig Spuren zu verwischen. Inzwischen badeten seine Hände im eigenen Saft und er fragte sich, wann endlich die nächste Ladung schweißabweisenden Labormaterials in der Zentrale eintraf.
Ava nickte. »Hin und wieder werden Tattoo-Models gebucht. Momentan brauche ich sie aber für einen speziellen Kunden, der früher mal Hochzeitsmessen betreute. Er war bei dem Walk damals ganz vernarrt in mein Trio. Sie hätten so was Geheimnisvolles und Mystisches.«
»Sie meinen Suzan, Serah und Jade?«
»Damals war es ein ganz besonderes Trio. Suzan lag mit Grippe flach. Flynn Duncan sprang kurzfristig ein. Das ist der Bruder der Duncan-Frauen. Als Bräutigam passte er gut ins Bild. Er ist ja ein schmucker Kerl und die Rolle des Models war ihm total auf den Leib geschrieben. Leider blieb sein Walk die absolute Ausnahme.«
»Das Shooting im Hof«, kam Paul wieder zum aktuellen Geschehen. »Wer war der Auftraggeber?«
Ava schniefte. »Sie kennen sicher die Zeitschrift »Pure«? Derzeit marktführend in Sachen Fashion.«
Paul sah Craig etwas hilflos an, doch da geriet er an den Falschen. Mit Mode hatte der wenig Kontakt, er verließ sich, was sein Outfit betraf, wohl auf den Ratschlag seiner jeweiligen Flamme, und auch Pauls Beschäftigung mit dem Thema beschränkte sich auf die dringend notwendigen Einkäufe.
»Ähm – ´Pure`. Klar. Hätten Sie die Kontaktdaten für mich?«
Ava händigte ihm eine Visitenkarte aus, die er in seiner Brieftasche verstaute. Nur langsam ging sein Blick wieder zu der Toten, und er entschloss sich, ein paar Fotos zu schießen: von Suzan und ihren klaffenden Wunden wie roten Mündern. Von der kleinen, noch leicht glänzenden Lache aus Blut und Urin auf dem Boden, auf der heruntergefallene Blüten thronten. Außerdem von den Utensilien, die hier so herumstanden und von dem Schmetterlingsrüssel auf Suzans Kleid. Jedes ungewöhnliche Detail versuchte er einzufangen. Zuletzt kniete er vor der Toten nieder und fotografierte ihr Gesicht aus der Froschperspektive. Die blicklosen Augen waren zur Hälfte geöffnet. Ihr Licht mochte im Moment der bittersten Verzweiflung erloschen sein. Sie schienen noch einen bestimmten Punkt zu fixieren. Die Visage des Mörders?
Am Eingang tat sich etwas. Detective Mel Stanton betrat die Szene: verwaschenes Blond, wacher Blick und, wie die Zusammenarbeit der letzten fünf Jahre bewies, körperlich fit und wendig und von scharfem Verstand.
Paul und Mel begrüßten einander per Handschlag. Unter Avas leeren Blicken trat der Detective zur Leiche. Ihm dicht auf dem Fuß folgte der Ermittlertrupp: mehrere Männer und eine Frau vom CSI, in ihren hellen Schutzanzügen und mit den Spurensicherungskoffern. Ein Kollege gesellte sich zu Paul, Craig und Ava, und stellte die nötigen Fragen, während ein Mitarbeiter Skizzen anfertigte und ein weiterer nach unentdeckten Blutspuren suchte für die Blutspurenanalysten. Ein Dritter sicherte Fingerabdrücke mittels Rußpulver und Klebefolie.
Ermittlerin Winnie Lovett, Ende vierzig und eine Figur wie eine Vorpubertäre, nickte Paul knapp zu, bevor sie etliche Fotos vom Fundort und von der Leiche knipste. Noch vor Weihnachten letztes Jahr hatte Winnie ihm Avancen gemacht, doch er konnte ihrer zynischen Art nicht viel abgewinnen.
Mel Stanton trat zu Paul, der nun mit Craig ein Stück abseits des Tatorts stand und die Tote aus ein paar Schritten Entfernung betrachtete. Manchmal verhalf ein neuer Blickwinkel zu neuen Erkenntnissen. Paul überragte Stanton um mindestens einen Kopf. Er hatte ihn größer in Erinnerung.
»Hi Paul«, meinte der. »Kann nicht sagen, dass ich mich freue, dich heute zu sehen. Was verschlägt dich in die Gegend?«
Paul legte den Arm um Craigs Schultern. »Mein lieber Freund Craig hier. Sehnsucht nach den alten Zeiten, stimmt’s, Craig? Und Zahnweh.« Vorsichtig befühlte er bei der Gelegenheit seine Wange – alles schien gut. Stanton schob fragend die Augenbrauen zusammen.
»Und natürlich das Mädchen«, fügte Paul rasch hinzu. »Böse Sache. Hätte mir meinen Tag anders gewünscht.« Ava neben ihm schniefte erneut in ihr Taschentuch. Stanton atmete zischend aus.
»Es