Ein Lebenstraum. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177402
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Unsinn. Es ist eine Sünde und Schande.«

      »Aber Tantchen, Du kannst mir doch wenigstens sagen, was Liebe ist, und wäre sie auch das Schrecklichste auf der Welt. Ich weiß doch, was Stehlen ist und Morden, und in der letzten Woche beim Konfirmations-Unterricht hat uns der Herr Superintendent auch erklärt, uns Mädchen allein und den Knaben wieder allein, was Ehebrechen ist, warum soll ich denn nun nicht wissen, was lieben ist?«

      Die Justizrätin nahm mit zwei Fingern einige Staubkörnchen und Wollfädchen von der vollendeten Stickerei und sagte:

      »Ach lieben! Lieben ist dummes Zeug. Arme Mädchen überhaupt müssen gar nicht von lieben reden, es schickt sich nicht, und daraus kommen dann solche Romanengeschichten, wie die mit Deiner sel’gen Mutter. Wenn einmal ein anständiger Mann nach Dir kommt, Lorchen, ein Mann, der sein Brot hat, der es ehrlich meint und zu Deinem Stande passt, den kannst Du dann lieben in Gottes Namen, ich liebe meinen guten Justizrat auch, bei einer verheirateten Frau ist das Pflicht und Schuldigkeit. Junge Mädchen denken nicht an solche Dinge. Geh’ in Onkels Zimmer und stäube die Möbel ab, Onkel will, dass Du das tust und nicht der Schreiber.«

      »Kann ich nicht warten, Tantchen, bis der Onkel im Geschäftslokal ist?«

      »Häusliche Arbeiten müssen immer zur rechten Zeit getan werden. Punkt zehn Uhr muss Onkels Zimmer ganz aufgeräumt sein, ein Viertel auf elf beginnt eine Empfangszeit!«

      Die Kleine nahm die verschiedenen Wischtücher und Federbesen, welche bei der Justizrätin zum Abstäuben gebraucht wurden und ging mit jenem leisen Grauen, das sie durchaus nicht überwinden konnte, wenn sie gezwungen war, mit dem Onkel allein zu sein, an ihr Geschäft.

      Fünftes Kapitel.

      Den 17. Februar war Leonorens Geburtstag, der erste, den sie fern vom Vater erlebte, der ihn stets zu einem Festtage für sein Kind gemacht. Bis zum vorigen hatte sie die Schule besucht und eine Schar lustiger Altersgenossen hatte mit ihr an dem fröhlichen Tage gespielt und sie beschenkt. Im Hause des Onkels wusste niemand davon. Die Tante war auf kurze Zeit verreist, sie machte einen Besuch bei einer der reichen adeligen Familien, deren Mandatarius Justizrat Delbruck war. Lorchen hatte ihr den ganzen Schmuck einpacken müssen. Die vielbewunderte Uhr mit dem Emailgehäuse und der Erbsenkette, auch die Brosche, die wie eine gelbe Weintraube mit goldenem Blatt aussah und das Johannisbeeren-Ohrgehänge. Die Kleine hatte alle diese Herrlichkeiten beim Packen zum ersten Mal in den Händen gehabt und mit aufrichtigem Entzücken bewundert. Der Onkel, der dabei gestanden, hatte sie leise flüsternd gefragt, ob sie auch so schöne Ohrringe haben wolle?

      »Ich habe ja keine Ohrlöcher, Onkelchen«, antwortete sie lachend, »und zudem in meinen eigenen Ohren könnte ich die reizenden Dingerchen gar nicht sehen und ich sehe sie sehr gern. Sie gefallen mir über alles, denn sie erinnern mich an die Zeit, da meine sel’ge Mutter lebte und ich noch ganz, ganz klein war. Da hing ich mir auch bald Kirschen, bald Johannisbeeren so um die Ohren, dass sie unter dem Ohrläppchen gerade wie solche reizende Bommelchen aussahen.«

      Der Onkel hatte bei diesen Worten sein allerhässlichstes Gesicht gemacht, das Gesicht, bei dem es Lorchen immer ganz kalt über die Haut lief.

      Am Geburtstagsmorgen stand sie vor dem Spiegel und betrachtete ihr eigenes Gesichtchen. Es sah so traurig aus, dass sie selbst darüber hätte weinen können. Sie war so allein auf der Welt! Wie weit entfernt war sie vom Vater! dem einzigen Menschen, der sie recht lieb hatte, und die Mutter! O wie lange, wie lange schon schlief die den ewigen Schlaf! Sechszehn Jahre war sie alt. Ein ganz, ganz erwachsenes Mädchen. Was kannten und verstanden andere schon in dem Alter? – Kochen und Glätten, und Französisch und Oberhemden nähen. Lorchen kannte nichts als bunt sticken und Tante Selma sagte ihr jeden Tag, dass das für ein Mädchen gar nicht notwendig sei. Auch zeichnen kannte Lorchen allerdings, sie porträtierte mit bunter Kreide recht gut und hatte besonders das merkwürdige Glück, jedes Gesicht so zu treffen, dass man es auf der Stelle erkannte, und sie bossierte auch in Wachs und Ton. Seit sie aber fünf Monate bei Tante Selma war, wusste Lorchen recht gut, dass das alles gar nichts sei, und ein ordentlich genähtes Hemde viel mehr für den Wert und die gute Erziehung eines Mädchens spreche.

      Sie ging ans Fenster, ein eisiger Regen schlug gegen dasselbe und die Tropfen blieben in Form kleiner Dolche und Nadeln auf den Scheiben kleben. Ein garstiger Südwestwind fegte die Straße hinauf und ließ die vom Schneewasser gebildeten Pfützen ordentlich Wellen schlagen. Wo der Schnee noch nicht zerschmolzen war, sah er wie schmutziger Sand aus, tausend Füße hatten ihn zerstampft und zertreten, und wie die Erde, so trug auch der Himmel sein hässlichstes mistfarbigstes Kleid. O einen Sonnenblick, einen einzigen Sonnenblick, Lorchen hätte für einen lachenden Sonnenstrahl einen Strahl ihres Blutes geben mögen. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben und weinte, das Herz erzitterte in ihrer jungen Brust unter den Tränen, wie eine knospende junge Birke erzittert unter dem Schauer eines Gewitterregens. Sie setzte sich, um recht ausweinen zu können, auf den Lehnstuhl der Tante, der am Fenster stand, und drückte die heiße Stirn in seine weichen Kissen, und da geschah ihr, was Kindern oft zu geschehen pflegt, sie weinte sich in den Schlaf.

      Die schweren Flechten sanken allmählich tiefer und tiefer in ihre Stirn und zogen die Nadeln mit sich. Das lange Haar löste sich auf, rieselte in weichen Wellen um Schläfe und Schulter und lag in üppigen Ringeln ihr im Schoße. Die kleinen Händchen ruhten geöffnet auf der Seitenlehne des Stuhles, unter den geschlossenen Lidern drangen noch einzelne Tränenperlchen hervor und rollten langsam über die Pfirsichwange. Lorchen schlief fest und träumte süß, obgleich sie weinte. Ihr war’s, als ob die Wolken am Himmel verschwänden und die Sonne in aller Klarheit auf die niederlächle. Aber ihr Strahl hatte nichts Blendendes; mit offenen Augen konnte sie ins göttliche Sonnenantlitz schauen und da sie recht hineinblickte, war’s gar nicht die Sonne, sondern ein liebes, schönes Menschengesicht, das mit dem Ausdruck liebevoller Teilnahme sich über sie beugte. Augen, sanft und kühn, tauchten ihren leuchtenden Strahl in die ihrigen und frische Lippen näherten sich ihrer Stirn wie zu einem Kusse. Sie wollte sich verschämt abwenden, aber wie sie im Schlafe sich mühte, den Kopf zu bewegen, zerriss sie seine bleierne Fessel und sah hell erwacht in ein bekanntes schönes Menschengesicht. Baron Sigmund von Kandern beugte sich über die Stuhllehne und der Ausdruck seiner samtschwarzen Augen war ganz so liebreich, als er Lorchen im Traum erschienen. Sie erschrak auch eigentlich gar nicht, und nur als Kandern sichtlich errötend von ihr wegtrat, fühlte sie in ihrem Herzen einen leisen süßen Schauer, ob aber vor Freude oder Schreck, das hatte sie nicht entscheiden können und wenn ihr Leben davon abgehangen.

      »Ist der Justizrat Delbruck zu sprechen?« sagte nach einer Pause von mindestens zehn Minuten Herr von Kandern endlich.

      Lorchen antwortete kein Wörtchen, sondern klingelte und trug der eintretenden Christiane auf, den Herrn hinaufzurufen. Einige Minuten später stand dieser im Zimmer und sah auf die beiden Anwesenden mit einem Blick, unter dessen Eisspitze Kandern seine Ruhe und Sicherheit wiederfand und Lorchen in ein angstvolles Starren verfiel.

      »Das Fräulein ist wahrscheinlich unwohl, Herr Justizrat«, sagte Kandern, »ich fand sie auf diesem Stuhle mit aufgelöstem Haare eingeschlafen und leise im Schlafe weinend.«

      »Was fehlt Dir, Leonore?« fragte der Hausherr mit einem neuen Dolchblick auf das Mädchen.

      »Ach Onkelchen, mir fehlt nichts, eigentlich nichts, ich weinte nur weil – weil ich heute sechszehn bin und – und keine Mutter mehr habe, und der Vater nicht geschrieben hat – und ich – –«

      Hier brach von neuem ein Strom von Tränen gewaltsam aus ihrer Brust hervor, sie schlug die Hände vor die Augen und ließ sich in den Stuhl niedersinken, ohne das Schluchzen bemeistern zu können.

      »Ach Dein Geburtstag ist heute, Mädchen«, sagte der Justizrat es versuchend, ihre Hand von den Augen zu entfernen. »Sieh! Sieh! Und den wird man ja wohl zelebrieren müssen.«

      Kandern hatte anfangs diesen kleinen Umstand überhört, ein unsägliches Mitleid mit dem verwaisten jungen Mädchen, das ihm neben dem übel berüchtigten Onkel wie ein Vögelchen