Ein Lebenstraum. Julie Burow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julie Burow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177402
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href="#u6fe8fdce-f9ed-54f9-8679-edbbfc307186">Impressum

      Erster Teil.

      Erstes Kapitel.

      In Tilsit war großer Ball. Der glänzendste im Jahr. Der Pferdemarkt, dies Ereignis im Leben der ostpreußischen Landbesitzer, versammelt in der Mitte des November alle in der hübschen Kreisstadt.

      Viele Polen und Russen finden oder fanden sich, zur Zeit, da unsere Erzählung beginnt, dann auch dort ein. Ein reges Leben herrscht auf wenige Tage in allen Straßen; der Schluss desselben ist eben jener Ball, zu welchem die Hallen des alten Schlosses am Niemen aufs Beste geschmückt waren, während aus der langen Reihe seiner gotischen Bogenfenster ein voller Lichtstrom dem Wagen entgegenstrahlte, der eben dumpf rollend über die Zugbrücke fuhr.

      Die Insassen desselben waren ein Herr und zwei Damen, von denen die eine eben nicht besonders platziert war, da sie, rückwärts sitzend, vor dem niederrieselnden, eiskalten, mit Schnee gemischten Regen nur durch ihr Mäntelchen und ihre Kapuze geschützt wurde; denn der Wagen hatte nicht die Bequemlichkeit eines Hinterverdeckes. Da indes die Fahrt vor der erleuchteten Halle des Schlosses ein Ende hatte, so war die Sache zu ertragen, besonders für ein fünfzehnjähriges Kind, das zum ersten Mal im Leben die Herrlichkeit eines Balles schauen sollte. Wie ihr das Herz schlug, der Kleinen! Man hätte es gegen die rosenrote Schärpe klopfen sehen können, wenn irgendein Auge sich die Mühe genommen, unter das graue Mäntelchen zu schauen, das leicht über den einfachen Ballputz geworfen war.

      »Zieh’ die Füße zurück, Lorchen«, sagte der Herr auf dem Vordersitz, indem er seine auffallend lange Gestalt aus verschiedenen winterlichen Hüllen herauswickelte, und während er den Kopf unter dem Verdeck hervorstreckte, bemerkte er, ebenso neu als geistreich:

      »Es ist ein erbärmliches Wetter!«

      Dagegen ließ sich nichts einwenden. Die Damen schwiegen also und ließen sich die Kavalierdienste ihres Begleiters gefallen, die mit ziemlicher Gewandtheit geleistet wurden. Dann reichte er mit einer echten Ehemanns-Gleichgültigkeit der einen den Arm, und Lorchen folgte dem Paare durch die hallenden Korridors über eine breite, hell beleuchtete, mit Tannenzweigen und Papierblumen geschmückte Treppe, bis zu einer Tür, über der mit großen gotischen Buchstaben geschrieben stand:

      »Damengarderobe.«

      Wer auch nur fünfzig Schritt durch eine nordische Novembernacht gefahren, muss, wenn er sich im Lichte zeigen will, zuvor seine Kleidung ordnen.

      Die beiden Damen legten also ihre Hüllen ab und die Ältere rollte lange, rabendunkle Locken noch einmal über ihre schlanken Finger, und ließ sie dann auf eine Stirn niedersinken, die, weiß und leer wie ein Blatt Postpapier, ein Gesicht von seltener Regelmäßigkeit krönte. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr zu ihrer vollen Herzensbefriedigung, dass niemand ihr die achtundzwanzig Jahre ansehen konnte, die sie nun schon seit vier Wintern zählte und dass ihr neues Kleid von amaranthfarbigem Satin ihr vortrefflich stand. Auch Lorchen sah verstohlen in den Spiegel, und während sie mit einer auffallend kleinen bräunlichen Hand die aschfarbigen Haare glättete, wollen wir versuchen, das Bild zu beschreiben, das sie darin er blickte.

      Es war das eines schlanken Mädchens, das kleiner erschien als es war, weil alle Glieder, im allervollkommensten Ebenmaße stehend und mit der leichtesten Anmut bewegt, den Eindruck des feinen Zierlichen auf den Beschauer hervorbrachten. Das Gesicht – ja schön war es nicht, dazu war die Stirn zu hoch, die Lippe zu schmal, die samtene Wange, welche der Scheitel so hübsch umschloss, zu bräunlich. Nur das Auge hätte der ärgste Tadler für schön, für wunderbar schön erklären müssen, dies Auge tief und dunkelblau, wie das Bild des Himmels, das uns aus den ruhenden Wellen des Meeres entgegenschaut. Eine eigene Zierde für das liebreizende Kind waren auch die prächtigen Flechten von der seltensten Färbung und die blendend weißen Zähnchen, die sich aber fast gänzlich hinter die feinen Lippen versteckten.

      Es lag etwas in dem Gesichte des jungen Mädchens, das Teilnahme erweckte, das leise erzählte, wie diese schönen Augen sich schon im Weinen geübt, diese sanften Lippen schon im Schmerz gebebt hatten.

      Jetzt freilich lächelten sie gar fröhlich, und in den Augen glänzte das Feuer der Erwartung. Ein Ball, ein großer glänzender Ball! Welche Vorstellungen verbindet die Phantasie eines jungen Mädchens mit diesem Worte, und Lorchen gehörte zu denjenigen, deren Phantasie einige Ähnlichkeit mit den Rossen am Wagen des weiland verstorbenen Ikarus haben.

      »Seid Ihr fertig?« fragte der Begleiter, den Kopf in die Tür steckend, als Lorchen eben noch einen ganz fröhlichen Blick auf den Rosenknospenkranz heftete, der die ungewöhnliche Höhe ihrer Stirn etwas verminderte.

      »Wir kommen!« antwortete seine Frau, und nach einer Minute stand Lorchen zum ersten Mal in einem hell erleuchteten Ballsaale.

      Eine Flut von Licht, ein Meer von Feuer, strömten ihr blendend entgegen. Um die Säulen, welche die Decke trugen, drehten sich geschmückte Paare im einfachen deutschen Walzer. Die hellblauen Uniformen der Dragoner-Offiziere von der Besatzung kontrastierten seltsam mit den schwarzen Fracks der Zivilisten und den goldgestickten Krägen der Herren vom Landstande. Lorchen befand sich im Mittelpunkte einer märchenhaften Pracht, oder eigentlich befand sich der Mittelpunkt derselben in ihr, in ihrem frischen phantasiereichen, nach Glück und Genuss durstenden fünfzehnjährigen Herzen, und als sie nun gar in den Armen eines stattlichen jungen Mannes in Landstands-Uniform dahinflog, getragen von jener sanften Musik, deren ganzen Zauber nur der Deutsche kennt, da wogte in ihr ein Strom von Vergnügen, ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten. Das kleine Mädchen, das in einsamen Stunden so düster, so traurig aussehen konnte, war schön, nicht wie ein Engel oder Seraph, sondern wie ein reizendes Weib. Ein ältlicher rotwangiger Herr, dem man es am Schnitt seiner Weste ansehen konnte, dass er im Alltagsanzuge seine eigne, aus Stallgeruch, Tabaksdampf und den Dünsten des Maischbottichs zusammengesetzte Atmosphäre mit sich herumtrug, fasste seinen Nachbar, einen großen blassen Mann von ganz städtischer Tournüre am Rockknopf und fragte so laut, dass alle Umstehenden es hörten:

      »Wer zum Teufel, Justizrat, ist das hübsche Mädchen, das dort eben mit dem Baron von Kandern walzt? Die dort rechts, mit dem Rosenkranz und dem Füßchen, das man wie einen jungen Vogel in der hohlen Hand halten könnte.«

      »Freut mich, dass sie Ihnen gefällt, Herr Ober-Inspektor, es ist niemand anders als die Nichte meiner Frau, Leonore Arnold«, entgegnete der Gefragte mit einem eigentümlichen Lächeln.

      »Was, was, na unmöglich, doch nicht die Tochter von Ihrer Frauen Schwester, die mit dem Schauspieler Arnold davonging? Na unmöglich! Mir ist, als wenn die Geschichte, die die ganze Welt halb toll machte, erst gestern geschehen wäre. Ah, ein Sakkermentskerl war der Arnold, und ihre Schwägerin war ein hübsches Ding zu ihrer Zeit.«

      »Sie ist ihre Tochter«, entgegnete der Justizrat mit einigem Ernst, »und wir haben sie seit sechs Wochen zu uns genommen, weil sie in den Umgebungen, wo sie aufwuchs, wahrscheinlich zugrunde gegangen wäre. Die Mutter starb vor sechs Jahren. Damals schon wollten meine verstorbenen Schwiegereltern das Kind haben, aber der Vater verweigerte es ihnen! Jetzt hat er sich anders besonnen. Er schrieb selbst an uns und trug uns das Mädchen an. Er hat zum zweiten Mal geheiratet, die Stiefmutter ist auch Schauspielerin, Prima-Donna einer in der Mark irgendwo vagabundierenden Truppe, und mag die erwachsene Tochter als keine sehr angenehme Zugabe betrachtet haben. Wir nahmen sie natürlich, wir sind kinderlos, meiner Frau ist die Gesellschaft und gelegentliche Aushilfe des Mädchens bei häuslichen Arbeiten angenehm, und meiner Schwiegermutter letzter Wunsch geht in Erfüllung; denn sie starb, indem sie uns bat, das Kind ihrer ältesten Tochter nicht aus den Augen zu lassen.«

      »Ich habe sie gekannt! Ich habe sie gekannt, die wackere alte Dame«, sagte der Ober-Inspektor mit trübem Kopfnicken. »Sie hat es nie vergessen können, dass ihre Älteste, ihr Stolz, ihres Herzens Liebling sich zu einem Gespött gemacht hatte. Und der Oberst, der ehrliche Haudegen! Wissen Sie, Justizrat, ich war noch halb und halb ein Junge, kaum zwanzig Jahre alt, als Anna von Korff den Teufelsstreich machte, aber Gott strafe mich, ich habe geweint, als ich den alten Soldaten sah, dem man sein Bestes, sein Kind, geraubt hatte.«

      »Kannten