2050. Jennifer Schumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Schumann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783754927403
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neben dem Wasserkocher.

      »Besser als nichts.«

      Dank der Solaranlage auf dem Dach und zwei Dutzend kleiner Kondensatoren hat unser Haus ausreichend Strom. Keine Ausnahme hier in der Region, weshalb es noch immer viele in die Provinzen ziehen lässt.

      In den Städten ist die Energieversorgung deutlich schwieriger. Der größte Teil unserer weltlichen Infrastruktur funktioniert zwar noch immer, jedoch liegen die meisten Firmen, Hersteller und Versorger mangels Energie brach.

      Es waren auch eher die ersten Jahre, die im Chaos versanken und von Panik beherrscht wurden. Heute sind die meisten Menschen entspannt, haben akzeptiert und resigniert. Dennoch, Hunderttausende wählten in den letzten Jahren den Freitod und mit jedem Tag, an dem sich der Asteroid nähert, häufen sich solche Vorfälle. Nochmal so viele bauten sich Bunker und legten Vorräte an.

      Auch Vater wollte unter unserem Haus ein Loch ausheben, als den Menschen klar wurde, dass ein Einschlag unabwendbar war. Ich riet davon ab, denn es würde nur das unvermeidliche Ende hinauszögern und die wenigen Jahre, die blieben, verschwenden.

      Stattdessen wollen wir Spaß haben, solange es geht.

      »Salut«, grüßt nun auch mein Vater. Er ist ebenfalls noch im Pyjama. Seine Bartpflege hat er seit Monaten vernachlässigt, was ihn inzwischen wie einen Wilden aussehen lässt.

      »Ich gehe heute noch in den Wald, etwas jagen. Kommst du mit?«

      Die Frage gilt André. Ich darf das Haus natürlich unter keinen Umständen verlassen. Die Drohnen des Militärs würden mich binnen Minuten orten, aufspüren und in die längst verlassene Kaserne schaffen.

      André schüttelt seinen Kopf. »Heute nicht.«

      Auch ich spreche mich dagegen aus und erinnere daran, dass vom letzten Reh noch mehr als die Hälfte im Kühlschrank liegt. Unser alter Herr brummt nur, spart sich dieses Mal jedes weitere Wort über die angebliche, ihn so sehr traktierende, Langweile.

      »Du kannst doch mitgucken«, bietet André an und entblößt seine übergroßen Schneidezähne. Vater aber wehrt sofort ab. »Nein, nein, da genieße ich lieber das gute Wetter.« Er greift nach dem selbstgebackenen Brot, schneidet sich ein großzügiges Stück ab und reicht mir den Rest.

      Langsam schlurft er ins Wohnzimmer und aktiviert das dortige Mediasystem. Im Sammelmenü erscheint die Anmerkung der von mir bereits abgerufenen Inhalte. »Du hast die Nachrichten schon gesehen?«

      Ich nicke nur. »Nichts Aufregendes. Orion wird nicht fertig und heute Nacht sind irgendwo zwei Shuttles abgestürzt.«

      Vater zuckt mit den Schultern. »Nur noch mehr Ratten, die das sinkende Schiff verlassen wollten.«

      Ratten. Das ist der einzig passende Begriff für diese Leute. Kaum, dass der Asteroid damals erkannt wurde, vergaßen die führenden Köpfe unserer Welt all ihre Differenzen, packten gemeinsam ihre Reichtümer, um die Arche für sich und ihre Familien zu bauen. All das, bevor der Rest der Menschheit realisierte, was es bedeutet, wenn dieser Brocken mit der Erde zusammenstoßen wird.

      Beinahe drei Jahre ließen sie dieses gigantische Fluchtschiff im Orbit zusammenstellen. Über eine halbe Million Menschen aus allen Teilen der Welt pferchen sich derzeit in winzige Luxuskabinen, um die Zeit nach dem Einschlag auszusitzen, bis eine Landung wieder sicher sein wird.

      Meine Kompanie war eingeteilt worden, die Eliten Frankreichs auf ihrem Weg in das Überleben abzusichern und dafür zu sorgen, dass Normalsterbliche all dem nicht in die Quere kamen, denn immer wieder versuchten Einzelne, ebenfalls auf die Arche zu gelangen. Die meisten fanden dabei den Tod. Es war brutal, sogar unmenschlich, und doch sah ich es irgendwie ein, denn es waren schließlich deren Mittel, mit denen die Arche gebaut wurde. Auch wenn dieses Geld in den letzten einhundert Jahren nur mit vielen zweifelhaften Tricks angehäuft wurde. Rechtlich war es ihres.

      Entlarvend bleibt nur, welche Personen plötzlich alles noch zu den »sehr wichtigen Menschen« zählen. Von skrupellosen Wirtschaftsherrschern über Waffenschieber, Mafiabosse, Banker, die korruptesten Politiker und die schlimmsten Hassprediger diverser Religionen ist einfach alles an Abschaum dabei, was dieser Planet je hervorgebracht hat.

      Was hatte Vater vor Wut gepoltert – zu Recht, denn es offenbart, wer unsere Welt stets regiert hat: Diebe und Gauner, sagt schon der Volksmund, und Apocalyptica zeigt uns schlussendlich ihre hässlichen Gesichter.

      War jemand ernsthaft überrascht? Ich nicht. Vor Jahrtausenden wurden freie Völker von religiösen Fanatikern niedergemetzelt und ausgerottet. Mordend und zerstörend zogen sich Heere aus Eroberern über den Globus, bereicherten sich und entschieden anschließend, nachdem alles unterjocht und aufgeteilt war, eine Zivilisation zu gründen. Die Macht- und Wirtschaftskriege der einzelnen Nationen, allem voran die der Amerikaner, setzte jedoch nie ganz aus. Bis zu dem Tag, an dem Apocalyptica erschien.

      Mit einem Schlag schwieg plötzlich jede Waffe und seitdem herrscht Frieden auf unserer Welt. Vater nennt diese Offenbarung nur »ekelhaft« und »heuchlerisch«. Er mag recht haben. Nur, wer ist er? Was kann er tun? Genauso wenig – oder viel – wie wir anderen, denn unsereins wird geboren, beherrscht, soll arbeiten und konsumieren, bis wir am Ende sterben.

      Ich sehe meinen kleinen Bruder an und fühle diese innere Schwere. Unsere Mutter verfluchte sich so oft, ihn geboren zu haben, nur um ihn einem solchen Ende auszusetzen. Aus ihren ungerechtfertigten Selbstvorwürfen bildete sich eine schwere Depression, die sie anfangs zu überspielen und später zu leugnen versuchte. Ganz zum Leid von André, welches sie sich dann ebenfalls zuschrieb und eines Nachts unter Tränen das Haus verließ.

      Seitdem hoffen wir auf ihre Rückkehr, ohne etwas Argen in unseren Gedanken. Jedenfalls gilt das für mich. Ich teile ihren Schmerz und verzeihe ihr, uns im Stich gelassen zu haben. Daher übernehme ich an ihrer Stelle die Fürsorge der Familie, in der wir still auf das Unabwendbare warten.

      »Ratten.« André kichert. »Vermutlich werden Nagetiere überleben.« Ich nicke.

      »Je kleiner ein Tier, desto höher ist dessen Überlebenschance.« Mein Bruder sah mich grübelnd an.

      »Wenn das doch alles schon beschlossen ist … wieso versteckst du dich noch?«

      Er ist ein viel zu kluger Junge, obwohl er nie eine Schule besucht hat. Ich streiche ihm durch sein volles Haar und lächele. »Das sind noch die Regeln der alten Welt.« Mit dem Zucken meiner Schultern erkläre ich ihm die Fahnenflucht.

      »… und deshalb ist es Hochverrat. Die Systeme werden mich bis zum letzten Tag suchen.«

      »Viele Tage sind das ja nicht mehr«, brummt Vater, als er die Wetter-App über den Schirm anzeigen lässt. Ich halte für einen Moment den Atem an und blicke auf André hinab, der ebenfalls nur meinen Vater anstarrt und schluckt. Uns alle wird einmal mehr bewusst, dass es wirklich nicht mehr viele Tage sein werden, an denen die Sonne für uns scheint. André wird heute Nacht gewiss wieder Albträume haben.

      Ein schriller Ton dringt plötzlich aus den Lautsprechern und weckt unsere Aufmerksamkeit.

      »Was war denn das?«, frage ich, denn ein solches Signal hatte es nie zuvor gegeben. Mein erster Gedanke ist, dass es die akustische Ausgabe eines Fehlers sein könnte. Mein Verdacht erhärtet sich, als das Auswahlmenü daraufhin bei allen Sendeanstalten das gleiche Thumbnail zeigt.

      »Das muss ein Fehler sein«, murmele ich in mich hinein, obwohl sich die Beschreibungen bei allen Sendern unterscheiden.

      »Und das?«, fragt nun aber mein Vater und deutet auf den Bildschirm; am oberen Rand zählen sich alle zur Meldung passenden Updates und geteilte Inhalte zusammen. Zwanzig … einhundertsechzig … achthundert, und das in nur Sekunden! Irgendetwas muss soeben geschehen sein und flutet nun das Internet. Also berühre ich das erstbeste Angebot auf dem Hauptschirm. Das Video wird frei ausgestrahlt, es gibt keine Lizenzhinweise oder Hilfeaufrufe. Ich bestelle die Sendung und setze mich. André nimmt zwischen mir und meinem Vater Platz.

      »Werte Zuschauer«, begrüßt uns eine Stimme hinter schwarzen Grund. »Die folgende