»Welch eine Schande.«
Sonnenorden Junior schüttelte den Kopf. Er hatte sich von einem Kind fertig machen lassen. Noch nie hatte er erlebt, dass ein Junge einen solchen Zauberspruch heraufbeschwor. Der Kleine hatte ihn eindeutig überrumpelt, dem war sich Sonnenorden Junior sicher. Dieser Vigor war kein niederer Magier. Er war offensichtlich ein höherer Magier, oder vielmehr einer gewesen. Dass der Kleine diesen Spruch überlebt hatte, war eigentlich ausgeschlossen. Die Energie war viel zu viel für einen so kleinen Körper. Der Magier grübelte. Der Neue führte einen Bergkristall. Womöglich war er ein Verwandter des Silbernen Turms. Oder hatte er den Anfang einer neuen Familie im Rang der Hohen Magier entdeckt? Immerhin waren im letzten Krieg weite Lücken bei Beryll und Korund entstanden. Er versorgte seine Verletzungen, die Schnittwunden, Schrammen und Blutergüsse, die er von dem Zusammenstoß erlitten hatte. Dann kleidete er sich neu ein. Zunächst versuchte Sonnenorden Junior noch seinen Stab zu reparieren, von dem nur das obere Ende nicht zerborsten war. Es stellte sich schnell heraus, dass es der Schaden zu groß war.
Er öffnete einen großen Wandschrank. Dort standen mehrere baugleiche Mahagonistäbe. Es waren Reservehölzer für jene Fälle, die einem Magier in Konflikten immer mal wieder passieren konnte und er gehörte zu den Zauberern, die in dem Ruf standen keinen Kampf zu scheuen. Sonnenorden Junior setzte den nun wieder unversehrt aussehenden, gelben Moissanit auf einen neuen Stab. Den alten Stummel versteckte er im Schrank. Bei der nächsten Befeuerung des Kamins würde das Stück Holz einen letzten Dienst verrichten. Dann teleportierte sich Sonnenorden Junior hinaus, rüber in den Hof der Hinterburg.
Die Explosion warf den regulären Tagesablauf der Sonnenakademie komplett über den Haufen. Der laute Knall schallte durch die ganze Festung und die Wucht rüttelte an allen Fenstern der Gebäude in der Hinterburg. Es riss jeden aus seinen Studien und Aktivitäten. Die Schüler standen vor ihren Schlafstuben oder Werksälen auf der anderen Seite der Ringmauer. Eine Gruppe sammelte sich auf der Trennmauer zwischen Hauptburg und Hinterburg. Das Küchenpersonal stand vor der großen Halle neben der Küche. Hier und da standen einige Lehrer und Magier dazwischen. Auch alle Fenster füllten fragende und geschockte Gesichter. Immer weitere Schaulustige eilten auf den Hof. Wo sich eine Säule aus Rauch und Staub in den Himmel hob und vom Wind verteilt wurde. Sonnenorden Junior manifestierte sich vor dem Waffenlager. Trotz des Winds brauchte es einen Moment bis die Stelle der Baracke wieder sichtbar wurde. Ein Bild der Verwüstung bot sich dem Magier. Die ganze Halle war zusammengebrochen, der dunkelbraune Erdboden ringsum zu einem kreisrunden Krater zusammengesackt und der darunter liegende gelbe Sandsteinfels rund heraus gesprengt und an den Rändern aufgetürmt, gespickt mit dicken Mauersteinen, aus dem gleichen Material, die einst Teil der Kellerwände gewesen waren.
Einige Magier und Lehrer liefen zur Unglücksstelle und sammelten sich um Sonnenorden Junior.
»Hoffentlich war da keiner mehr drin«, bemerkte ein kleiner, dicklicher Mann mit grauem Haar und tiefen Falten. Er trug einen Schmiedehammer, statt einem Zauberstab. Der Schmied sah den jüngeren Magier neben sich fragend an. Dieser machte eine gleichgültige Geste.
»Kann man nichts machen.«
»Große Güte. Wir müssen ihn finden.«
»Denkt Ihr wirklich, dass ein kleiner Junge eine solche Katastrophe überlebt?«
»Wollt Ihr ihn liegen lassen?«
Sonnenorden Junior überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, wir werden ihn suchen.«
Er hatte sich dazu entschlossen, dass sich der Neue zumindest das Begräbnis eines Magiers verdient hatte. Er wies zwei andere Lehrer an. »Schickt die Schüler rein. Hier gibt es nichts zu sehen.«
Die Schüler wurden in ihre Säle oder Gemächer geführt. Die Magier begannen den Schutt mit Zaubersprüchen anzuheben und auf einer Seite zu türmen. Sie gruben sich langsam durch das Dach und das Erdgeschoss. Schließlich erreichten sie den Keller. Die Säulen waren komplett bis auf eine Höhe von vierzig Zentimetern abrasiert. Nur von der Säule neben Vigor, an der die Welle begonnen hatte, waren ein paar Steine mehr übrig geblieben. Dies hatte einen herunterfallenden Dachbalken abgefangen und den bewusstlosen Jungen vor dem Zerquetschen bewahrt.
»Respekt, da hat ja mal einer ausgeteilt«, bemerkte Crest. Er war nicht der größte Mann, aber für einen Magier brachte er relativ viele Muskeln mit. Sein rostrotes Haar verriet durch die grauen Strähnen, dass er auf die Fünfzig zuging. Mit ernstem Gesicht suchten sie den Krater ab. Es dauerte eine ganze Weile bis sie fündig wurden.
»Ob er noch lebt?«, fragte der Schmied, als sie den kleinen Körper entdeckten.
»Sehen wir nach.«
Die Magier teleportierten sich ins Trümmerfeld zu Vigor. Er lag regungslos von Steinen und Splittern getroffen und blutig geschlagen. Das Lausbubengesicht war mit geschlossenen Augen auf die Seite gekippt. Blut tropfte von der Stirn. Das dichte braune Haar war so voller Staub, dass es auch der graue Haarschopf eines Greises sein könnte. Der Stab lag in der offenen Hand mit einer schwarzen Brandwunde in der Handfläche. Der Schmied musterte den Jungen.
»Meine Güte, das ist auch noch einer von den ganz Kleinen.«
»Was sonst«, erwiderte Sonnenorden Junior. »Es ist ein Neuzugang.«
»Die gibt es auch in zwei Nummern größer.«
Sonnenorden Junior beugte sich hinunter und tastete mit der Hand nach Vigors staubigem Hals. Crest runzelte die Stirn. Fasziniert war er von der Tatsache, dass der Stab unversehrt und sauber war. Der Edelstein am Ende blitzte im Sonnenlicht.
»Ich bringe ihn in den Krankenflügel«, meinte Sonnenorden Junior. »Ich habe das Gefühl, einen nicht uninteressanten Neuling für die Akademie gefunden zu haben.«
Crest und der Schmied nickten. Sonnenorden Junior verschwand mit dem bewusstlosen Vigor in den Armen.
5. Kapitel: Der Eid des Sonnenordens
Vigor öffnete die Augen. Neben sich sah er fünf weitere Betten mit dicken, weiß bezogenen Kissen und Daunendecken. Nachttische und Bettgestelle waren aus schlicht gezimmertem Birkenholz. Sie standen auf dem nackten, dunkelbraun gebeizten Dielenboden. Er war allein und lag offenkundig in einem Krankenzimmer irgendwo in einem Obergeschoss der Sonnenakademie. Zwischen den weißen, geschwungenem Holzvertäfelungen ließen große, rechteckige Sprossenfenster viel Licht hinein, dass sich durch die Regenwolken kämpfen musste. Er hatte einen Verdacht wo er war und sah im Bett liegend hinaus. Die Wiese der Hinterburg lag im trüben Grau des Morgens. Der Wind der über die Klippe jagte, rüttelte an den Fenstern. Die Ruhe war erholsam, aber ungewohnt, auch weil er die letzten Jahre zumeist in Gruppenzimmern verbracht hatte. Aber das war es nicht. Schließlich hatte er in der Schmiede auch allein geschlafen. Das Gefühl war vertraut, nicht angenehm aber vertraut. Vigor fühlte sich einsam und allein gelassen. Irgendwie drängte sich ihm die Frage auf, ob er zuvor verlassen worden war. Er wusste es nicht. Komischerweise überlagerte die empfundene Einsamkeit auch jede Furcht vor Gefahr. Vielleicht auch deshalb, da ihm seine eigene Bedrohungslage unbekannt war. Was würde er tun, wenn wieder etwas passieren würde?
In diesem Moment kam Sonnenorden Junior herein, begleitet von einem Mann von vielleicht dreißig. Der Arzt war ein junger Magier in weiß und goldfarbener Gewandung, strohblondem Haar und einem freundlichen Gesicht. Sie sprachen in Flüsterstimme miteinander, ohne auf Vigor zu achten. Der Junge verkroch sich in seinem Bett und horchte durch ein kleines Guckloch zu.
»Ich möchte mit der Vernehmung anfangen, ist er dazu fähig?«, fragte Sonnenorden Junior.
»Ja, Eminenz«, erwiderte der Arzt. »Er ist aber noch sehr schwach, Ihr solltet nicht zu viel von ihm verlangen.«
»Das stört nicht, manchmal macht es die Sache einfacher.«
»Wünscht