Iska - Die Flucht. Jürgen Ruhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Ruhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754185339
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erstaunt, dann starr. Während er langsam vornüber zu Boden kippte und Gerwolfs Kopf unter sich begrub, wurde hinter ihm Iska erkennbar, das blutige Messer noch in der Hand haltend.

      Niemand im Dorf bewegte sich. Es schien, als würden alle die Luft anhalten. Solch eine Tat, noch dazu von einem kleinen Mädchen, auch wenn es wie ein Junge aussah, hatte niemand erwartet. Es herrschte in diesem Moment Totenstille. Der erste, der sich wieder fasste, war Thoralf und er zischte Iska die Worte zu: „Flieh, Iska, flieh!“ Dann warf er sich dem heranpreschenden Präfekten entgegen. Der hielt sein Schwert hoch erhoben und zum Schlag bereit, wurde aber durch den im Weg stehenden Thoralf ein wenig aufgehalten.

      Iska handelte wie im Traum. Das Messer glitt ihr aus der Hand, sie drehte sich um und rannte zwischen den Dorfbewohnern, die eine schmale Gasse bildeten, in Richtung Wald. Links und rechts standen Soldaten mit ihren Pferden, aber die Dorfbewohner behinderten sie durch die gebildete Gasse. Aus dem Augenwinkel sah Iska noch, wie der Präfekt den Dorfältesten einfach über den Haufen ritt und dann ohne Rücksicht auf etwaige Opfer hinter ihr her preschte. Iska konnte von Glück reden, dass sie durch das allgemeine Durcheinander ein wenig Zeit gewonnen hatte. Aber würde sie vor den Römern den Wald erreichen können?

      Iska handelte instinktiv. Wie ein gejagtes Reh. Hören und Fühlen waren ausgeschaltet, die einzigen Geräusche, die sie vernahm, waren das Klopfen ihres Herzens und ihr Atem, der stoßweise ging. In ihrem Kopf wiederholte sich ständig die Szene, wie ihrem Vater der Kopf abgeschlagen wurde. Träumte sie? Konnte das alles Wirklichkeit sein? Ihr Vater? Einfach so ermordet? Ermordet wegen einer Frage, einem Einwurf, einer Bitte? Wieder und wieder sah sie den Kopf rollen, den Soldaten hämisch grinsen und triumphierend die Arme heben.

      Iska war jung, durch die ständige harte Arbeit und viele Bewegung gut trainiert und gut im Laufen. Rasch näherte sie sich dem Waldrand, da erkannte sie aus den Augenwinkeln einen Pferdekopf neben sich auftauchen. Der Präfekt gelangte mit ihr auf gleiche Höhe und schon holte er zum Schlag mit dem Schwert aus. Instinktiv wollte Iska einen Haken schlagen, kam aber ins Straucheln und prallte gegen den Leib des Pferdes. Der Schwertstreich des Römers verfehlte sie nur knapp, dafür scheute das Pferd und tat einige Schritte zur Seite. Iska fing sich wieder und erreichte genau in diesem Moment den rettenden Wald. Hier standen die Bäume so dicht und die Büsche waren so zahlreich, dass an dieser Stelle kein Pferd hindurch kommen würde. Doch sicher vor den Verfolgern war sie noch lange nicht. Iska lief weiter. Sie spürte nicht, wie Äste ihr das Gesicht zerkratzten und sie spürte auch nicht, wie ihre Füße auf dem Waldboden blutig aufrissen. Sie wusste weder wohin sie rannte, noch ob Verfolger weiter hinter ihr waren.

      Als sie laute Kommandos und Rufe in der ihr so unbekannten Sprache der Römer hinter sich vernahm, steigerte sie ihren Lauf noch einmal. Lieber vor Erschöpfung tot umfallen, als in die Hände der Römer zu gelangen.

      IV. Das Versteck

      Iska erwachte, als sie Stimmen hörte. Es musste sich um römische Soldaten handeln, denn sie redeten in der Sprache der Römer miteinander. Sie vernahm, wie sich die Geräusche ihrem Versteck näherten und ihr Herz begann heftig zu pochen. Würde man sie jetzt entdecken? Dann verstummte das Gespräch der Soldaten plötzlich und Iska hörte das Rauschen von Wasser. Ein erleichterter Seufzer beendete den Wasserfluss und kurz darauf entfernten sich die Stimmen wieder.

      Wie Iska es bis hierhin in ihr Versteck geschafft hatte, konnte sie nicht mehr sagen. Instinktiv war sie einen Bogen gelaufen und bis zu ihrem hohlen Baum gerannt. Hier lag auch ihr Beutel mit der Kleidung. Iska dachte an das Geschehene. Ihr Vater war tot. Entsetzt schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. War das wirklich kein Traum? Dann blickte sie auf ihre Hände. Blut klebte daran. Blut eines Menschen. In einem Moment des Zorns hatte sie zugestochen. Den Mörder ihres Vaters getötet. Ihren Vater gerächt. War das auch Mord? War sie jetzt eine Mörderin? Iska dachte an die vielen Gespräche mit dem Dorfältesten, mit Thoralf. Ganz genau erinnerte sie sich an die Worte von Recht und Gesetz. Von den Vorteilen und Annehmlichkeiten, die das römische Leben bot. Waren das alles nur leere Worte, wenn ein römischer Soldat einfach so einen Menschen umbringen durfte? Einfach so - auf den Befehl eines Präfekten? Iska regte sich nicht und lautlos rannen ihr die Tränen die Wangen herab. Ihr bisheriges Leben war beschwerlich gewesen, voller Entbehrungen. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt - aber niemals gab Vater ihr die Schuld daran oder ließ sie so etwas spüren. Ja, der Tod gehörte selbstverständlich zum Leben und niemand wusste das besser als die Menschen im Dorf. Aber es war ein, trotz allen Mangels, gutes Leben. Sie hatten sich, sie hatten die Freunde und die Gemeinschaft. Was wäre jetzt, wie würde es weitergehen? Iska war bewusst, dass sie nicht wieder in das Dorf zurückkehren konnte. Sie fragte sich, wie lange sie wohl noch zu leben hatte. Die Römer waren auf der Suche nach ihr. Wo sollte sie hin? Dann wanderten ihre Gedanken zu Wiborg. Wiborg, ihr Bruder. Was war aus ihm geworden? Würde sie ihn jemals wiedersehen? Vermutlich hatten ihn die Römer ebenfalls verschleppt oder sogar getötet. Und sie saß jetzt hier in ihrem Baum und wusste nicht weiter.

      Das Versteck war einigermaßen sicher, denn nur derjenige, der auf den Baum kletterte, konnte den Eingang in den hohlen Stamm finden. Aber lange würde sie sich hier nicht aufhalten können. Ihr Bruder erzählte ihr einmal, dass die Römer blutrünstige Hunde hielten, um damit Menschen zu verfolgen. So richtig glauben wollte sie es eigentlich nicht. Sie selbst hatte keine besondere Beziehung zu den von Menschen gezähmten Wölfen. Die Wölfe, die sich hier in den Wäldern herumtrieben, waren schon genug der Plage. So manches Schaf und so manche Ziege wurden ein Opfer dieser Tiere und immer wieder erzählte man sich Geschichten von Menschen, die im Kampf mit diesen Kreaturen ihr Leben lassen mussten. Iska konnte gut auf die Bekanntschaft mit diesen Wesen verzichten. Sie machte sich keine Illusionen. Wenn nicht die Römer sie fangen würden, so blieben noch genug Gefahren. Und sie müsste essen und trinken, also ihr Versteck verlassen. Oder verhungern und verdursten. Aber würde sie nicht sowieso sterben, von römischen Soldaten gefangen und gefoltert? Dann doch lieber hier in ihrem Versteck verhungern!

      Die Zeit verging nur schleichend und Iska lauschte immer wieder angespannt, ob sie noch Stimmen vernehmen konnte. Aber alles war ruhig. Immer wieder wandte sie den Blick nach oben, dort wo sich der Einstieg in den Baum befand. Sie konnte jedoch keinen Lichtschimmer entdecken. Hatte Sunna ihre Reise am Himmel noch nicht begonnen? Iska überlegte. Wenn die Römer mit ihren Hunden kämen, könnten sie den Eingang zum Versteck finden. Sicher würden die Tiere sie hier drinnen wittern und ihre kleine Baumhöhle verraten. Dann säße sie in der Falle. Vielleicht sollte sie ihr Glück versuchen und während der Dunkelheit fliehen? Aber wohin?

      Sie kannte die Umgegend des Dorfes sehr gut, aber viel weiter war sie noch nie fort gewesen. Ja, aus Erzählungen - insbesondere vom Dorfältesten Thoralf - wusste sie vom großen Fluss, von der Römerstadt Novaesium oder der Siedlung, die die Römer Colonia Ulpia Traiana nannten. Und auch von dem römischen Grenzwall, der entlang des Flusses verlaufen sollte. In zahlreichen Gesprächen erzählte ihr Thoralf von den Siedlungen der Römer, von Dingen, die für die Römer selbstverständlich waren; aber eine richtige Vorstellung, um was es sich bei all dem handelte, bekam Iska dabei nicht. Viel zu fremd und zu anders waren all diese ‚Errungenschaften‘ der Römer.

      In welcher Richtung sollte sie fliehen? Über den Fluss? Iska konnte nicht schwimmen, alle Bäche hier waren flach genug, dass sie so durchschritten werden konnten. Nie gab es die Notwendigkeit, sich wie ein Fisch fortzubewegen. Wie weit würde sie fliehen müssen, um vor den römischen Soldaten in Sicherheit zu sein? Thoralf sprach einmal während einer ihrer Unterhaltungen davon, dass die Römer die ganze Welt beherrschten. Und wie groß war die ‚ganze Welt‘? Iskas Welt spielte sich bisher immer um das Dorf herum ab und das genügte ihr schon vollkommen. Sie war zufrieden gewesen und es gab nie eine Notwendigkeit nach anderem zu streben. Gab es überhaupt ein Entkommen vor den römischen Soldaten?

      Iska war verzweifelt. Ihre Füße brannten und juckten gleichzeitig und wenn sie sich mit ihren Händen durch ihr Gesicht fuhr, spürte sie die Risse und Striemen von den Ästen. War das die Strafe der Götter für ihren Frevel? War das die Strafe, dass sie Guntram nicht heiraten wollte? Sie hatte die festgelegten Abläufe durch ihr Verhalten ändern wollen. Wie dumm und verbohrt war sie eigentlich gewesen? Sie, die kleine Iska, wollte das von den Göttern und dem Dorf Vorbestimmte