Iska trug den Beutel an einem Band über der Schulter. „Lass uns heimkehren, Vater wird uns bestimmt schon vermissen. Außerdem muss noch das Vieh versorgt werden.“ Sie klang jetzt nicht mehr ganz so selbstsicher wie zuvor und Wiborg merkte, dass seine Schwester sich wohl auch Gedanken machte. Aber jetzt war es zu spät, um noch etwas ändern zu wollen.
III. Der Mord
Langsam gingen sie nebeneinander auf das Dorf zu, jeder trug stolz einen Korb voller Früchte, und je näher sie den wenigen Hütten kamen, desto einsilbiger wurde Iska. Aber auch Wiborg schien in Gedanken versunken. Das ganze Dorf würde über sie lachen und sie könnten schon zufrieden sein, wenn es bei den Prügeln bliebe, die ihnen ihr Vater mit Sicherheit verabreichen dürfte. Mit Schrecken dachte Wiborg daran, was Elfrun dann über ihn denken würde. Wieso musste er auch seiner Schwester dieses dumme Versprechen geben? Und bekäme er nach dieser Angelegenheit überhaupt noch eine Chance mit Elfrun zusammenzukommen? Das hässlichste und dümmste Mädchen im Dorf würden sie für ihn zur Strafe, dass er seine Schwester so verunstaltet hatte, aussuchen. Wiborg begann leise die Götter um Gnade anzuflehen. Gnade für sich und seine Schwester.
Nach einem kurzen Fußmarsch ließen sie den Wald hinter sich und spazierten jetzt über eine Wiese, die von einem kleinen Hügel zu der Ansammlung von Hütten führte. Von hier aus überblickten sie einen Großteil der Felder und das an einem Waldrand gelegene Dorf.
Um einen kleinen Platz gruppierten sich weitläufig Hütten, die sowohl den Menschen, als auch den Tieren ein Zuhause waren. Aus einer dieser Hütten stieg leichter Rauch zum Himmel auf. Mittlerweile zählte das Dorf sieben dieser Behausungen. Geplant war der Bau einer weiteren direkt am Waldrand. Es sollte zunächst nur eine kleine Hütte werden und nur wenige Bäume würden dafür weichen müssen. Guntram und Iska würden dort ihr Heim finden. Der Platz war vom Dorfältesten und ihrem Vater schon bezeichnet worden. Alle Männer des Dorfes würden mit anfassen und in kürzester Zeit die Hütte bauen. Alles war geplant, alles stand fest. Nie und nimmer verzichtete Guntram auf die Hochzeit! Welch eine dumme Idee von Iska. Er betrachtete seine Schwester von der Seite. Selbst mit diesen kurzen, franseligen Haaren war sie noch wunderhübsch. Guntram wäre nie und nimmer der Narr, der auf diese Frau verzichten würde!
Plötzlich schaute Wiborg auf. Zunächst mutete es an wie eine dunkle Rauchwolke zwischen den Bäumen, dann erkannte er, dass auf der gegenüberliegenden Dorfseite Reiter auf einem Weg aus dem Wald preschten. Hochgewirbelter Staub ließ die Männer verschwommen erscheinen. Es handelte sich um geordnete Zweierreihen und unschwer erkannte der Junge, dass es römische Soldaten waren. Wiborg gab seiner Schwester einen Stoß. „Schau!“
Iska sah angestrengt zu der Stelle, die ihr Bruder ihr mit ausgestrecktem Arm zeigte. „Was ist das?“
„Das sind römische Soldaten. Sie kommen in diesem Jahr sehr früh in unser Dorf. Normalerweise ist noch ein wenig Zeit, bis die Römer ihren Tribut fordern. Sonst kommen sie doch immer nach dem vollen Mond, bevor er wieder schwindet, in unser Dorf. Diese hier sind zu früh. Was das wohl zu bedeuten hat?“ Wiborg klang besorgt. Dieser Besuch der Soldaten machte keinen Sinn und er konnte sich deren Verhalten nicht erklären.
Auch Iska machte sich jetzt Gedanken. „Vielleicht greifen sie das Dorf an?“ Sie war entsetzt, aber Wiborg konnte sie beruhigen: „Nein, dafür sind es zu wenige. Außerdem halten sie keine Waffen in Händen! Das kann ich ganz genau erkennen. Komm, beeilen wir uns. Ich bin neugierig, warum die Soldaten alle dort unten sind.“
Schon wollte Wiborg losrennen, als Iska ihn zurückhielt. „Sollten wir uns nicht lieber verstecken? So wie ich es sonst auch mache, wenn die Römer in unser Dorf kommen?“ Wiborg schüttelte den Kopf. „Du kannst dich ja verstecken. Aber ich glaube, dass diesmal kaum Zeit geblieben ist, die Frauen und Kinder im Dorf zum Versteck zu führen. Geh zurück in den Wald und warte dort, bis ich dich hole!“
Iska krallte sich in die Schulter ihres Bruders. „Nein, Wiborg. Ich gehe mit dir. Wenn alle Männer und Frauen des Dorfes dort sind, möchte ich mich nicht feige verstecken.“
Beide rannten über die Wiese zu den Hütten hinunter. Mittlerweile erreichten die Soldaten den Platz in der Mitte des Dorfes. Die Männer saßen in einem Halbkreis hinter einem einzelnen Reiter auf ihren Pferden. Gegenüber den Soldaten und links und rechts zu den Seiten fanden sich allmählich die Dorfbewohner ein. Nach und nach wurden es immer mehr und es schien, als käme das ganze Dorf jetzt hier zusammen. Schwer atmend erreichten Wiborg und Iska den Rand des Platzes. Das Mädchen, das jetzt wie ein Junge aussah, schaute mit großen Augen auf die prächtig gekleideten römischen Soldaten. Bisher waren die Frauen und Kinder immer rechtzeitig in ein Versteck gebracht worden, wenn die Römer in das Dorf kamen. Trotz aller Friedensbeteuerungen von Seiten der Römer trauten die Männer des Dorfes den Fremden nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben betrachtete Iska jetzt die stolzen Reiter mit ihren prächtigen Waffen und den in der Mitte des Halbkreises mit hocherhobenem Kopf auf seinem Pferd sitzenden einzelnen Römer. Seine Kleidung erschien dem Mädchen noch prächtiger und wertvoller als die der anderen. Der Mann war nicht so schlank und drahtig wie die Soldaten hinter ihm, sondern verfügte über eine enorme Leibesfülle. In dem schwammigen Gesicht saßen viel zu kleine Augen, die er jetzt halb zusammenkniff. Mit grimmigem Blick beobachtete er seine Umgebung. Jeder der Soldaten trug einen metallenen Brustpanzer, Helm, ein Schwert und einen Dolch am Gürtel. Unruhig scharrten die Pferde mit den Hufen. Es waren prächtige, große Tiere, wohlgenährt und voller Kraft. So etwas hatte Iska noch nicht gesehen und fasziniert schaute sie von einem Soldaten zum anderen. Thoralf, der Dorfälteste lehrte sie hin und wieder ein wenig zählen und rechnen, es war eines ihrer Geheimnisse, und im Stillen zählte Iska nun die Reiter. Dabei benutzte sie ihre Finger, wie Thoralf es ihr gezeigt hatte. Fünf waren an jeder Hand und Iska stellte fest, dass sie vier Hände haben müsste, wenn jeweils ein Finger für einen Soldaten stehen sollte. Den Anführer vorne noch nicht einmal mitgezählt.
Im Dorf herrschte Stille, keiner der Dorfbewohner sagte etwas. Lediglich das Schnauben und Scharren der römischen Pferde war zu vernehmen.
Jetzt trat der Dorfälteste vor den Mann, der von seinem Pferd auf den alten Dorfbewohner herabsah. Thoralf sagte etwas in der fremden Sprache der Römer und ein Grinsen erschien auf dem Gesicht des Reiters. Iska verfügte trotz ihrer sechzehn Jahre schon über genug Menschenkenntnis, um zu erkennen, dass es kein fröhliches Lächeln war, was der Mann jetzt zeigte. Es erschien ihr ausgesprochen bösartig. In ihrer Magengrube machte sich ein flaues Gefühl breit. Dass diese Römer nichts Gutes im Schilde führten, war offensichtlich.
Der Römer antwortete dem Dorfältesten. Dabei sprach er laut und mit barscher Stimme. Nachdem seine kurze Rede endete, machte er eine herrische Handbewegung hin zu Thoralf. Der Dorfälteste drehte sich um und wandte sich an die Dorfbewohner. Langsam und deutlich, so dass jedermann ihn gut verstehen konnte, sprach er zu ihnen: „Leute des Dorfes. Ich soll euch übersetzen, was der römische Herr sagt, da ich die Sprache der Römer leidlich verstehe und auch sprechen kann. Die Reiter sind vor der eigentlichen Zeit, da wir ihnen Tribut zu zollen haben, in unser Dorf gekommen und ich fragte nach dem Grund.“
Thoralf wandte sich wieder an den Anführer der Soldaten. Der sprach jetzt etwas leiser zu dem Dorfältesten, aber dafür um so eindringlicher. Iska spitzte die Ohren, konnte den fremden Worten aber keinen Sinn abgewinnen.
Thoralf drehte sich erneut um: „Dieser Römer ist der neue Präfekt der römischen Stadt Novaesium, die nicht allzu weit entfernt von unserem kleinen Dorf in der Nähe des Flusses Rhenus liegt.“ Er hielt kurz inne, wie um sich zu erinnern. „Sein Name ist Gaius Quintus Vulturius.“ Thoralf wollte sich gerade wieder zu dem Römer wenden, als dieser sprach. Wieder übersetzte der Dorfälteste: „Der gnädige Kaiser Hadrianus hat seinen treuen Diener Gaius Quintus Vulturius in einer weisen und weitsichtigen Entscheidung als praefectus castrorum in unser Land geschickt.“ Thoralf machte eine kurze Pause und lauschte erneut den Worten des Präfekten. „Gaius Quintus Vulturius erwartet von den auf römischem Gebiet siedelnden Germanenstämmen ...“
Iska stupste ihren Bruder