Iska schaute ihren Bruder fragend an: „Ja - und?“
Wiborg druckste ein wenig herum, sah aber ein, dass er jetzt alles erzählen musste. „In dieser Grube befinden sich Waffen und Schilde. Waffen der Römer und Waffen unserer germanischen Brüder. Und nicht nur Messer, wie wir sie tragen. Nein, Schwerter und Dolche, Schilde und Helme, aber natürlich auch Messer und Pfeile für Bögen. Teilweise Beutestücke von den Römern und teilweise Waffen, die über den Rhenus gebracht wurden. So und das ist nun wirklich alles!“
Iska sah ihren Bruder ernst an: „Du hast doch mit diesen Waffen nichts zu tun - oder?“
„Nein, bestimmt nicht. Ich weiß das nur von Erzählungen!“
Iska überlegte. Ihr Bruder sagte ihr die Wahrheit, soviel war gewiss. Bestimmt aber auch nicht die ganze Wahrheit. Dafür kannte sie Wiborg zu gut. Aber sie sah ein, dass es auch keinen Sinn machte, jetzt noch weiter in ihn zu dringen. Sie schaute zum Himmel. Sunna mit ihrem Sonnenwagen war mittlerweile ein ganzes Stück weitergewandert und bald würde es Zeit sein, heimzukehren. Wollte sie ihr eigentliches Vorhaben noch ausführen, so wurde es dafür langsam Zeit. Wieder überlegte sie, wie Wiborg am einfachsten zu überzeugen sei. Auf keinen Fall wollte sie Guntram heiraten, egal was sie dafür auch alles noch anstellen musste.
II. Das Versprechen
„Du hast es versprochen!“
„Was versprochen?“
„Na, dass du mein Haar kürzt, so dass ich wie ein Junge aussehe.“
Wiborg erkannte, dass Iska ihren Plan nicht aufgeben wollte. Wie sollte er ihr klarmachen, dass diese dumme Idee doch nur Ärger einbringen konnte? Das ganze Dorf würde sich über sie lustig machen und am Ende müsste sie Guntram doch heiraten. Was beschlossen war, das war halt beschlossen. Jeder wusste das, nur seine kleine, dumme Schwester nicht. Oder sie wollte es einfach nicht wissen!
Noch einmal versuchte er Iska von dem unsinnigen Plan abzubringen: „Iska, sei doch vernünftig. Es hat keinen Sinn. Vater und das ganze Dorf haben beschlossen, dass du Guntram heiratest. Guntram wird dir ein guter Mann sein, glaube mir. Und die Familie von Guntram ist nicht arm. Es wird dir also gutgehen. Dein dummer Plan, die Haare zu kürzen, wird an der Hochzeit nichts ändern!“ Versonnen betrachtete er ihre wunderhübsche Lockenpracht. Es wäre eine Schande diese schönen Haare einfach abzuschneiden. Iska war wirklich ein hübsches Mädchen und Guntram könnte sich eigentlich glücklich schätzen, solch eine hübsche Frau zu bekommen. Andererseits ...
„Es ist kein dummer Plan“, unterbrach Iska seine Gedanken. „Wenn Guntram erkennt, dass ich mehr ein Junge als eine Frau bin, dann wird er mich nicht mehr heiraten wollen! Auch wenn ich zum Gespött des ganzen Dorfes werde.“
„Das bildest du dir nur ein, Iska. Schau dich an, du bist ein hübsches Mädchen und wirst ihm eine gute Frau sein! Deine Haare werden nachwachsen und das Einzige, was dir die Sache einbringen wird, sind Prügel von Vater. Das ganze Dorf wird über dich lachen. Und man wird sich die Geschichte von der kleinen, dummen Iska noch in vielen, vielen Monden am Feuer erzählen. Niemand hat Verständnis für deinen Wunsch, Guntram nicht zu heiraten.“
Iska schaute trotzig an Wiborg vorbei. „Sollen sie lachen, vielleicht gehe ich so einer Heirat aus dem Weg. Wenn erst einmal alle mit dem Finger auf mich zeigen, nimmt Guntram bestimmt Abstand von der Hochzeit. Wiborg, du hast es versprochen! Willst du dein Versprechen jetzt brechen?“
Wiborg überlegte. Seine Schwester brachte ihn in eine schwierige Situation, denn sein Versprechen galt. Das konnte er jetzt nicht einfach zurückziehen. Andererseits wären die Prügel wohl kaum auf Iska beschränkt, denn Vater würde schon erfahren, dass er seiner Schwester geholfen hatte, sich zu verunstalten. Wiborg überlegte hin und her. Es musste doch eine Lösung geben! Wie konnte er es schaffen, seine Schwester zur Vernunft zu bringen? Endlich meinte er einen Ausweg gefunden zu haben und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Gut, du sollst deinen Willen haben. Ich werde dir das Haar kürzen.“ Dann sah er sich suchend um. „Aber ach, ich sehe gar kein Messer. Soll ich dir die Haare einzeln ausreißen?“ Siegessicher lachte Wiborg seine Schwester an. „Also, vergiss die Sache und lass uns endlich zum Dorf zurückkehren.“
„Nein, warte.“ Iska rannte über die Lichtung und verschwand kurz darauf im Wald. Es dauerte nicht lange, schon kam sie mit einem Beutel in der Hand zurück. Schwer atmend blieb sie vor Wiborg stehen. „Schau her, ich habe ein Messer. Und nicht nur das. Ich habe auch Beinkleider und einen Hemdenkittel. Hier sieh!“ Iska öffnete den Beutel und zog die Sachen heraus.
Wiborg schüttelte staunend den Kopf. Seine Schwester war aber auch auf alles vorbereitet. „Wo hast du das her? Und wem gehört die Kleidung?“
„Das ist doch egal. Ich habe im Wald einen hohlen Baum gefunden, mein Versteck. Hier, nimm das Messer und kürze mir endlich die Haare!“
Iska reichte Wiborg das Messer. Es war eines der Messer, die sie zum Schilfschneiden benutzten, eines mit einer langen, spitzen Klinge. Wiborg ließ seinen Daumen prüfend über die Schneide gleiten. Ein Tropfen Blut trat aus seiner Haut. „Verdammt scharf. Das scheint ein Messer von Thoralf zu sein.“ Wiborg sprach mehr zu sich selbst, als zu Iska, doch die hatte ihn gut verstanden.
„Der Dorfälteste überließ es mir vor einiger Zeit. Ich habe es nicht gestohlen, falls du das denkst!“
„Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Iska, bitte überlege dir das noch mal. Es wird uns beiden nur Ärger einbringen. Sind die Haare erst einmal abgeschnitten, gibt es keinen Weg mehr zurück. Denk doch an die Prügel, die auf uns warten werden!“
Eindringlich sah Wiborg seine Schwester an. Dann wanderte sein Blick über deren dunkle Locken, die bis auf die Schulter reichten. Er betrachtete seine Schwester und seine Augen bettelten darum, diese Haarpracht nicht abschneiden zu müssen. Verzweifelt suchte er immer noch nach einem Ausweg aus dieser Situation. „Es wäre eine Schande, solch schöne Haare abzuschneiden. Du wirst nichts erreichen, Iska. Bitte sei vernünftig!“
Iska schüttelte den hübschen Kopf. Von dieser Idee ließ sie sich nicht mehr abbringen. Für sie war das jetzt der einzige Weg, nicht heiraten zu müssen. Nicht Guntram und auch niemand anderen. „Nein, tu es. Bitte. Du hast es versprochen und dein Versprechen musst du halten. Und nun mach, wir müssen bald zurück ins Dorf.“ Iska drehte ihm den Rücken zu. Kurz überlegte Wiborg, ob es einen Sinn machen würde, die Prozedur noch ein wenig hinauszuzögern. So lange, bis es zu spät war und sie ins Dorf zurückkehren mussten. Dann aber zuckte er mit den Schultern und machte sich vorsichtig daran, die Lockenpracht seiner Schwester zu kürzen. Strähne für Strähne und Locke für Locke fielen dem Messer zum Opfer und landeten im grünen Gras. So, als wollte sie diese Schande nicht erblicken müssen, verfinsterte eine große dunkle Wolke das Licht Sunnas. Wiborg blickte kurz zum Himmel und bat die Götter in Gedanken um Verzeihung. Das Messer war scharf und so dauerte es nicht lange, bis alle Haare kurzgeschoren waren.
„Fertig.“
„Und wie sehe ich aus?“
„Wie ein Junge, es fehlt dir nur noch die Kleidung.“ Wiborg zeigte sich von seinem Werk nicht sonderlich angetan. Im Geiste spürte er schon die Prügel. Warum hatten die Götter ihm auch keine Hilfe geschickt?
Iska zog sich mittlerweile die Männerkleider an und verstaute ihr Gewand im Beutel. Das Messer nahm sie ihrem Bruder aus der Hand und klemmte es im Hosenbund ein. „So, jetzt bin ich ein richtiger Junge. So wird mich Guntram bestimmt nicht heiraten.“
„Nein,