Saint Paul‘s betrat ich erst gegen 11:15 Uhr, hetzte beinahe durch die Kirche. Doch fesselten mich doch die Ausstattung und die Gruft. Als ich hinaustrat, schrieb ich 12:10 Uhr. Ich rannte zur Underground-Station. Einmal umsteigen. Und dann hörte ich die Ansagerin des Bahnhofes … Verspätungen! Ungefähr fünf Minuten. In meinem Magen braute sich ein schweres Gewitter zusammen. Diese ganz dunklen Wolken, die für die Lampen auflebend sind oder ein fatal romantisches Szenario entwarfen. Da war er wieder zurück, der Stress. Oh, nein. Nur noch 10 Minuten. Das schaffe ich nicht mehr. Traurigkeit überschwemmte meine Gedanken. Der Zug fuhr ein. Diese flauen Gefühle stürzten mich schon oft in leichte Panik. Und dieses Mal nur wegen eines links fahrenden Schlipsträgers, der traurig war. Doch seine Art, seine Augen und sein Schicksal berührten mich scheinbar so stark, dass ich mehr wissen wollte. Eben ein Fall. Es schwappte in mir über. So schnell konnte ich nicht gegen meine Wuttränen ankämpfen. Nur warum berührte mich dies so stark? Entschied ich mich doch vor einigen Jahren, mir einfach keine herzzerreißenden Abenteuer mehr leisten zu wollen. Es trieb mich trotzdem vorwärts. In der Tube setzte ich mich nicht mal hin, Temple. Immer wieder redete ich mir ein, mein Gehirn fiele in eines der berüchtigten Urlaubstiefs.
Mach endlich! Diese verdammten Türen zu! Ich muss weiter, brüllte es in mir. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und hätte geschoben, gezogen, gebrüllt. Endlich Westminster. Da, da war ein Ausgang, noch einer. Erneuter Regen komplettierte mein Unglück. Wie Lola, rannte ich, schon fünfzehn Minuten zu spät, wegen einer Störung. Meine Kondition konnte sich noch sehen lassen, dank des Sportes, den ich seit vier Jahren regelmäßig besuchte. Mit meinen Treggings, dem Sweater und dem Shirt darunter lief ich in meinen Sneakern wie von selbst. Meine Haare hatte ich zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie wippten im Takt meines Vorwärtspreschens. Es nieselte in meinen Ausschnitt. All meine Mühe löste sich in einer Naturdusche in einen Albtraum auf. Gehetzt rannte ich die Tothill Street hinunter. Da vorne war das Pret-A-Manger. Ich bremste und ging schwer atmend mit mittlerweile vollkommen nassen Haaren in den Laden. Atmen war erst mal wichtig.
Leere Tische, zwei Frauen am Tresen an den Fenstern, zwei ältere Männer blickten mich seltsam an. Die Schlange zur Kasse bestand nur aus vier Menschen, die nicht im geringsten mit meiner Zielperson harmonierten. Mir war es egal. Mag sein, dass ich verheult und fertig aussah, aber ich hatte eine einmalige Verabredung, heute und hier. Er war nicht da. Panik kroch in mir auf. Ich stieg zitternd die Treppe hinab, drei Frauen und zwei Kinder mit ihrer Mutter. Kein trauriger Schlipsträger, auch kein froher. Leider konnte ich die Tränen nicht mehr lange aufhalten. Kopflos rannte ich die Treppe wieder hinauf. Zitternd verließ ich den Laden und blickte die Straße hinunter.
Bitte, bitte nicht weg sein. Das wäre so …
Der Regen hielt mich davon ab, völlig durchzudrehen. Ich blickte auf der Straße erst in die eine und dann in die andere Richtung. Nicht ein einziger schwarzhaariger Mann in einem dunkelblauen Anzug, der mich hoffen ließ. Total genervt und sauer auf mich selber kehrte ich um. Meine Uhr schrie mir über zwanzig Minuten nach der Verabredung in mein Gesicht. Der Moment war gekommen, da mir nun Tränen über die Wangen stürzten. Doof, alles doof. Ich fliege wieder zurück. Gleich. Das zog mich so weit runter, dass sogar Schlucken wehtat. Mittlerweile zitterte ich. Sogar meine Zähne schlugen einen Takt an, der mich beinahe nicht mehr zum Nachdenken kommen ließ. Warum hatte ich nicht darauf geachtet? Meine Verabredung stellte sich als ein Fehlschlag heraus. Konnte ich noch irgendwas ausrichten? Nein. Ich hatte keine Informationen, die mir weiterhelfen konnten. Eine Hand berührte zaghaft meine Schulter. Lasst mich doch einfach hier sitzen. Ich stand automatisch auf und drehte mich um. Bloß nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich lenken wollend, hob ich meinen Kopf nur ein klein wenig an.
„Hallo! Oh weh, was ist passiert?“, kroch eine Stimme in mein Ohr, immer weiter in die Ohren und kam im traurigen Oberstübchen an.
Diese Stimme, tief brummend und männlich, kannte ich doch. Angenehm durchfuhr sie meine Glieder. Das Zittern verschwand für einen Moment. Doch durch die Tränen und den noch im Gesicht herablaufenden Nieselregen sah ich nur verschwommen jemanden vor mir.
„Ich verpasste meine Verabredung. Zu spät“, stammelte ich wie ein Häufchen Unglück aufgebend.
Waren das nicht dunkle Haare? Diese Größe. Mit meinen Händen wischte ich vorsichtig das Wasser von meinen Wangen und beim zweiten Mal versuchte ich, meine Augen etwas trockener zu legen.
„Alles okay? Ich bin doch hier“, hörte ich.
Als ich wieder versuchte, meine Tränen abzuwischen, liefen immer noch welche nach. Meine Schultern zuckten immer wieder. Zusammenreißen sollte ich mich endlich. In mir arbeitete nichts nach Wunsch, vor mir stand anscheinend ein sich sorgender Mann. Er ergriff meinen Arm und ich folgte ihm einfach. „Ich habe dich gesehen, wie du gerannt bist, dann wieder heraus kamst. Das sah panisch aus.. Meinetwegen so ein Engagement? Da kann ich doch nicht einfach verschwinden oder gar so schnell aufgeben“, in mir entzündete sich eine riesige Flamme mitten in meinem kalten, klammen Loch der Traurigkeit und des Verzagens.
Bloß weg hier. Erfüllte es mein Kopf, denn er stand vor mir. Oh mein Gott, er hatte mich erlebt, wie ich ihm hinterher rannte. Wie peinlich!
Sammeln musste ich mich. Ich war nun eine Heulsuse für ihn. Mein kleiner Fluchtversuch scheiterte, weil er mich festhielt. Sein tiefes Ausatmen beruhigte mich. Wahrscheinlich war er genervt. Statt einem belustigten Ausdruck, erblickte ich allerdings zusammengezogene Augenbrauen, darunter dunkelgrüne Augen, die mich sorgenvoll musterten. Verdammt, musste ich erbärmlich aussehen.
„Komm mit mir“, flüsterte er, gefolgt von „Und all die Tränen meinetwegen? Das tut mir leid. Und bei so einem Wetter ohne Hut oder Regenschirm unterwegs“, und das klang gar nicht spöttisch.
Etwas Sanftes berührte vorsichtig meine Augen, ein Taschentuch. Er wischte mir das Wasser und die Tränen beiseite. Nun sah ich in seine Augen, sie waren ernst und hellten auf, je ruhiger ich wurde.
„Aber, aber du bist hier“, staunte ich ihn errötend an.
Herrje, immer passierte mir so ein Unfug? Mit Sicherheit lief mit mir generell etwas ganz und gar nicht richtig. Was sollte er von mir denken? Ich holte zweimal ganz tief Luft.
„Tut mir leid, aber …“, versuchte ich gleich was genau?
Nein, so klappt das nicht! Er wollte doch gar keine Entschuldigung. Noch mal. Trotzdem entfuhr mir nur meine Entschuldigung.
„Die Tube verspätete sich und in Saint Paul‘s dauerte es einfach zu lange“, was auch immer ich stammelte, alles egal, „Ich wollte doch wissen, ob deine Tochter … “
„Olivia geht es viel besser. Mir aber auch. Das war ein wirklich guter Tipp. Bist du Mutter oder Lehrerin?“, fragte er.
„Nein. Ist das schlimm?“, erwiderte ich perplex seine Frage.
Er war ganz anders, als die „typisch normalen“ Schlipsträger. Alleine seine Frage, ob ich Mutter wäre, fand ich schon außergewöhnlich. Seine Augen öffneten sich, seine Stirn runzelte sich ein wenig und dann zuckten seine Lippen. Nach oben. Sah nicht nur süß aus, tat mir auch gut. Hoffentlich bedeutete dies nicht, dass ich nun als Gouvernante enden würde. Leicht schüttelte er den Kopf.
Ein wenig verlegen flüsterte er: „Nein, sag doch so etwas nicht. Sei doch fair zu dir selbst und mir. Aber sieh nur, ich habe Ausdauer bewiesen und nicht aufgegeben, um dich wiederzutreffen.“
Dieser Mann erfüllte so gar nicht meine Liste an Vorurteilen. Trotzdem sollte ich vorsichtig sein, denn ich bin zu oft hereingefallen auf diese Möchtegerntypen.
Zerstörte Zweisamkeit
Zerstörte Zweisamkeit
George Haggerthon, London, September 2015, Montag