Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 1. Vicky Lines. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vicky Lines
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745059502
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Blog-Eintrag aus England schreiben, fand ich auch noch eine gute Idee. Irgendwann schlief ich einfach ein.

      An diesem Freitagmorgen erwachte ich, so gegen sieben Uhr Londoner Zeit, frisch und ausgeschlafen. Ich duschte, nutzte dazu mein Lieblingsduschbad und ging eine Dreiviertelstunde später hinunter zum Frühstücksbuffet. Die Bedienungen, nur Frauen, hatten diese schwarz-weißen, klassischen Kleider an. Seltsam, aber doch gar nicht so ungewohnt, nur altbacken. Ich bestellte mir ein Kännchen English-Breakfast-Tee. Wennschon, dennschon, dachte ich mir. Zwei Scheiben Toast und etwas Butter mit einer Tomate ergatterte ich vom gut gedeckten Buffet. Das reichte mir. Aha, einen Scone wollte ich schon immer einmal probieren. Nach der ersten Tasse Tee breitete sich in mir ein wohliges Gefühl aus. Wärme. Zufrieden betrachtete ich die Gäste um mich herum. Ein Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Familien, Geschäftsreisende und zwei ältere Damen gönnten sich ebenfalls ein Frühstück im Souterrain des Hotels.

      Es war doch kühl in London. Wie sollte ich den ersten Urlaubstag für mich gestalten? Ach, ich beschloss, nachdem ich mir gestern so famos eine Oystercard gekauft hatte und die Fahrt mit der Tube so einfach und spannend war, in das Herz Londons zu fahren und wie eine typische Touristin einfach nur zu staunen und meinem Fotoapparat ein wenig Arbeit abzuverlangen. Einfach losfahren. Genau. Als ich wieder auf meinem Zimmer ankam, das nicht groß war, aber ausreichend Platz bot, packte ich meine Sachen ein wenig beiseite, platzierte das Pfund-Stück für die Reinigungskraft und blieb bei meiner Kombination aus Tunika und Leggings komplettiert mit einer Biker-Lederjacke. Das sollte heute reichen. Meinen Schirm hatte ich in meiner großen Handtasche verstaut. Im Spiegel sah ich gar nicht so schlecht aus, obwohl mein Gesicht doch abgekämpfte Züge zeigte. Generell fand ich mich dieses Mal mit meinen Unzulänglichkeiten noch ab. Es war schön, am Leben zu sein und beinahe alles selbst im Griff zu haben.

      Keine Viertelstunde später saß ich in der Tube und stieg Oxford Circus aus. Die neue Mischung an Mitreisenden empfand ich als so interessant, dass mir das gewohnte Nachdenken über mich und meine Situation nicht einmal im Traum einfiel. Indische Familien und die jungen, feschen Schlipsträger, die ganz anders auf mich wirkten, als daheim, Mädchen und Jungen in ihren Schuluniformen und die typisch britischen Menschen eben. Vom Oxford Circus schlenderte ich in Richtung Picadilly Circus, die Regent Street hinab und bestaunte die fremden Menschenmassen. Die roten Doppeldeckerbusse spuckten hier und da an den Stopps Menschen aus und aßen wiederum eine Traube derer. All die Geschäfte, die entgegen Berlins Art, in vielen Straßenläden untergebracht waren, statt in irgendeiner dieser hässlichen, monotonen und sterilen Einkaufpassagen, wirkten wie Teile eines riesigen, bunten Puzzles.

      Diese Vorstellung mochte ich. Sich vorzustellen, wie es hier in den Roaring Sixties zuging, war ein Leichtes. Ich hüpfte also heute von Puzzleteil zu Puzzleteil. Alles wirkte auf mich ein, immer tiefer, bis mir bewusst wurde, dass ich wirklich Urlaub hatte und hunderte Kilometer von zu Hause und dem Job entfernt war. Am Picadilly Circus beschloss ich, mir diesen geschäftigen Platz in der Dunkelheit anzusehen, weil die vielen Lichtreklametafeln, die hier im Übrigen ihren Ursprung hatten, um diese Uhrzeit fade wirkten. Eben tagsüber bei weitem nicht so imposant. Trotzdem versuchte ich, den Brunnen mit Eros obenauf zu fotografieren. Dies gelang mir sogar mit den gerade durchbrechenden Sonnenstrahlen.

      Es begann zu nieseln und ich machte mich gemütlich auf, um mir die wichtigste Sehenswürdigkeit anzusehen, das Parliament mit dem Turm und Big Ben darin. Schon von weitem erspähte ich den Waterloo Place mit den beiden Monumenten. Als ich die ganzen viktorianischen, wunderschön in Schuss gehaltenen Häuser erblickte, verführte es mich, mir vorzustellen, wie es vor 130 Jahren hier zuging. Somit zückte ich meinen Fotoapparat und fotografierte wild darauf los. Auch das Licht war perfekt in diesem Augenblick. In mir begann es zu schwärmen. Meine Güte, waren hier aber viele alte, wundervoll verzierte viktorianische Häuser erhalten geblieben. Ganz vorsichtig berührte ich das Monument des Duke of York. Herrlich.

      Als ich kurz danach den Saint James‘s Park erreichte, schummelte sich die Sonne für mich wieder durch die Wolken und ich beschloss einfach so, gutgelaunt durch den Saint James‘s Park am See entlangzuwandern. Über die Brücke gehend, befand ich mich in der Nähe vom alten Westminster. Die Vorfreude auf diese weltberühmten Sehenswürdigkeiten motivierte mich umso mehr, meinen Plan, dieses London aufzusaugen, in diese wundervolle erlebnisreiche Realität umzusetzen. Langsam gewöhnte ich mich an den Linksverkehr, auch auf dem Gehweg. In der Tothill Street knurrte mein Magen dann doch so unangenehm, dass sich das Hungergefühl auf meine Wahrnehmung auswirkte. Leichtes Schwindelgefühl erfasste mich bereits. Die ganze Zeit hatte ich Hunger, aber so viele neue Eindrücke verdrängten all die inneren Warnungen. Morgen Früh sollte ich etwas mehr zu mir nehmen. Knurrte mittlerweile dieser blöde Magen bereits lauter als ein Dackel. Es fing an, mir immer peinlicher zu werden, weil sich mitunter Passanten umdrehten oder mich verwundert ansahen. Von weitem sah ich ein Pret-A-Manger und dachte mir, dass für heute auch ein Snack reichen würde.

      Als ich in den Laden eintrat, sah ich mich kurz um. Rechter Hand befand sich eine Treppe in das Kellergeschoss, wo sicherlich noch mehr Sitzplätze zu finden waren. Linker Hand ein kleiner Tresen mit Barstühlen am Fenster und zwei kleine Tische an der Seite der Treppe vor mir. Auch für diese Zeit war der kleine Laden gut gefüllt mit Gästen. Die Schlange war lang. Also schnappte ich mir schnell ein Buffalo Chicken Baguette, eine Cola und einen Blaubeermuffin. Schnell musste ich bei dem Hunger einfach sein. Mittlerweile tat es auch ein wenig weh. Glück keimte in mir auf, weil es zügig voranging. Wie eine kleine Pflanze, die gerade die ersten Sonnenstrahlen im Frühling genoss, fiel mir ein. Kleine Halluzinationen durfte ich mir genehmigen. Vollkommen entspannt mit einem röhrenden Magen, stellte ich mich an der Schlange an. Nach zwei Minuten passierte ich einen der Tische an der Treppe, an dem ein einsam aussehender schwarzhaariger Mann mit leicht angegrauten Schläfen über seinem Essen nachdachte. Der wirkte so deprimiert und war damit so unscheinbar, dass ich ihn vorhin übersehen hatte. Grummel!

      Er sah auf und beäugte argwöhnisch meine Magengegend. Auch in der Schlange vor mir drehten sich zwei Frauen in Bürokleidung nach mir um. Einfach so tun, als käme das gar nicht von mir. Trotzdem starrte dieser Herr in seinem typisch dunkelblauen Anzug immer noch genau auf meinen Bauch. Doch kam er mir im Gegensatz zu allen anderen Menschen hier sehr viel abwesender vor, erschöpft oder gar depressiv. Ein Schlipsträger eben, was aber so gar nicht zu ihm passen wollte. Bitte, an so einem Tag, erschien mir das aber wirklich unpassend zu sein, so eine Niedergeschlagenheit allen hier darzubieten.

       Grummelgrummelgrumm!

      Wieder ein Donnergrollen aus meinem Bauch. Mir schoss das Blut in den Kopf, obwohl ich intensiv mein Baguette betrachtete. Oder weil ich es betrachtete? Schon war ich an der Kasse. Der Kassierer sagte mit britischer Ironie, dass ich es definitiv sehr nötig hätte und es eine gute Wahl wäre. Vor allem der Blaubeer-Muffin fand noch ein Extralob. Ich legte artig und lieb zwinkernd meinen Zwanziger auf den Tresen und schnappte mir mein Essen und das Wechselgeld. Als ich mich umdrehte, sah ich mich nach einem freien Platz gleich hier oben um. Drei hatte ich zur Auswahl. Aber einer fiel wegen der Nähe zur Tür aus meiner Wahl heraus. Die Barstühle fanden keinen Anklang, weil ich mich bequem hinsetzen wollte. An den Tisch zu einem Bauarbeiter wollte ich aber auch nicht. Meine Stilfragen schienen zwar nicht angebracht, aber bei meiner derzeitigen Situation relevant zu sein. Stattdessen überlegte ich, mich zu dem dunkelhaarigen Mann zu setzen. Was mich etwas überraschte. Wie der aussah, könnte er ein Stück von meinem Glücksgefühl gebrauchen. Interessant, interessant, interessant. Schnell vergrub ich mein Portemonnaie, fasste mein Tablett mit beiden Händen und lief hungrig und entschlossen zu diesem Mann, einsam am Tisch sitzend. Der kannte meinen Magen wenigstens schon.

       Grummel!

      „Dürfte ich mich auf den freien Platz setzen?“, stotterte ich auf Englisch heraus.

      Er sah verdutzt auf. Oh, er hatte grüne Augen. Die waren seegrün und matt. Nicht gut. Matte Augen deuten entweder auf Stress oder Drogen hin. Na gut, ich wollte es nicht anders. Und doch zog mich diese Traurigkeit und das Geheimnis dahinter magisch an.

      „Ja, kannst du ruhig“, hörte ich seine etwas desinteressierte Antwort. Ich setzte mich und biss in dieses Baguette.

      Meine Güte, hatte ich einen