Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 1. Vicky Lines. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vicky Lines
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745059502
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auf dem Heimweg holen wir uns ein Eis. Was hältst du davon, am Wochenende Granny zu besuchen?“, horchte ich sie aus.

      „Prima, Dad. Da kann ich ja lesen“, antwortete sie wie immer.

      „Schade, ich würde lieber mit dir, so wie jetzt, einfach dasitzen und reden. Gerade finde es echt toll mit dir“, sprudelte es von meinem Herzen aus mir heraus.

      „Ich auch“, flüsterte Olivia und drückte sich noch etwas mehr an mich.

      Das hier, genau das, habe ich so sehr vermisst. Seit meiner letzten „Beziehung“ vor beinahe sechs Jahren suchte ich nach einer Antwort auf meine missliche Lage. Nach einer Weile, die wir beide einfach nur beieinander die Umgebung betrachteten, blickte ich zu The Shard. Plötzlich dachte ich an Mary Poppins, die in meinem Hirn einen Schlafplatz suchte.

      Londinium Visitor

       Londinium Visitor

       Samantha Willer, London, September 2015, Wochenende

      Als er verschwand, stand ich noch eine Weile auf dem Gehsteig und sah ihm verloren nach. Montag. Das war interessanter als all meine geplanten Unternehmungen. Hoffentlich erging es seinem Kind besser als mir damals. Ich bekam mit, dass wahrscheinlich seine Tochter in Problemen steckte. Der Tower of London kam morgen, also Samstag, dran. Heute, am Freitag, standen Westminster und das Parliament auf dem Programm. Vielleicht schaffte ich es auch, tolle Aufnahmen meines Urlaubs zu ergattern. Bis zum Trafalgar Square und retour brauchte ich, um diese Begegnung vergessen zu machen. Wegen all dieser Sehenswürdigkeiten reiste ich hierher. Und ich schoss mittlerweile wirklich tolle Bilder, stellte ich fest. Routine bei der Bedienung meiner Kamera zahlte sich aus, kam ich doch daheim nicht dazu, meine letzte große Anschaffung zu nutzen.

      Der Weg durch das Regierungsviertel, vorbei an der Kavallerie, bei der ich nicht zu den Pferdestreichlern gehören wollte, hin bis zur Nelson-Säule und den vier Löwen schlenderte ich mehr, als ich lief. Beschauliche Bauten aus viktorianischen Tagen säumten die Straßen und die vielen Menschen aus aller Welt brachten mich zum Träumen. Endlich auf dem Trafalgar Square angekommen, drehte ich mich mehrfach, Zeit zu realisieren, dass ich immer noch nicht daheim war. Sonnig erlebte ich diesen Platz und konnte bis zum Big Ben zurückblicken. Ein weiter, lichter Platz, der nördlich vom Portal der National Gallery abgeschlossen wurde. Sieht man in westlicher Richtung den Admiralty Arch, der zu The Mall führt, beginnt im Osten der berühmte Strand. Im Süden sieht man unweigerlich das Parliament die Straße hinunter. Eindrücke, die ich aufsaugte. Touristenbusse, Menschen aus aller Herren Länder tummelten sich. Die fixen Japaner mit Stoßtrupps bestehend aus Fotografierwilligen, die entspannten spanischen Reisegruppen und die Franzosen teilten sich in Senioren, verliebte Pärchen, Pauschaltouristen und Schulklassen auf. So stellte ich mir das zumindest vor. Traf bestimmt auch zu.

      Dieser Abend bescherte mir eine angenehme Atmosphäre und zum Abschluss mit dem Sonnenuntergang versuchte ich, auf The Shard zu gelangen. Dafür wollte ich den Bus nutzen, um noch einige Eindrücke zu erhaschen. Die Themse floss, als wäre nichts passiert. Beim Anblick von Big Ben fielen mir die eindrucksvollen Filme aus dieser Stadt ein. Endlich am südlichen Teil der Tower Bridge angelangt, schlenderte ich zu diesem riesigen Gebäude. Heute hatte ich anscheinend Glück, ich wurde ohne große Wartezeit eingelassen und fuhr mit den Aufzügen in den 72. Stock. Die Aussicht, als ich auf die Plattform hinaustrat, bescherte mir die majestätisch vor mir liegende Metropole. Endlos bis zum Horizont erstreckten sich die abwechslungsreichen Häuser, durchbrochen vom Schienenefeu, die schlängelnde Themse und ein Labyrinth an Straßen.

      Mit meinem Buch in der Hand versuchte ich, mir ein Bild zu machen. Als ich Richtung Norden blickte, blieb ich stehen und sah etwas Grünes von der untergehenden Sonne angestrahlt am Horizont. Dort musste doch der High Gate Cemetery liegen, den ich unbedingt besuchen wollte. Daneben lagen grüne Hügel, Hampstead Heath vermutete ich. Irgendwie fesselte mich der Anblick. Lange blickte ich dorthin. Warum wusste ich nicht, vielleicht hatte es diese fesselnde Wirkung durch mein übermäßiges Stadtleben? Tolle Stadt, dieses Londinium, wie es von den Römern vor sehr vielen Jahren namentlich gegründet wurde. Mir gefiel alles heute gesehene.

      Der wundervolle Abend kam mir beinahe wie ein Sonnenuntergang an der Spree vor. Grüne Augen kamen in meinen Erinnerungen an diesen Tag wieder vor. Der Tischpartner bewegte meine Gedanken wieder und wieder. Solch ein Interesse an jemandem nach so einer komischen Begegnung beunruhigte mich etwas. Schließlich wusste ich nicht allzu viel über diesen traurigen Mann. Auf dem Rückweg zum Hotel vergaß ich nicht, beim Picadilly Circus noch einmal meine Tube-Fahrt zu unterbrechen und auszusteigen, um mir die Lichter der Stadt vorklimpern zu lassen. Beeindruckend bunte und nichtssagende Reklametafeln erleuchteten den Platz wie eine Tanzfläche.

      Am Samstag begann ich meine Stadterkundung mit dem Besuch des Tower of London und einem dieser wirklich humorvollen ehemaligen Soldaten als Führer durch diese Burg mitten in der Stadt. Die Kronen samt Gold und Edelsteinen, das dazugehörige Geschmeide und die Sicherheitsvorkehrungen bewirkten ein immer mehr entspanntes Gefühl in mir, so dass ich merkte, wie sehr ich diesen Urlaub gebraucht hatte. Am Nachmittag regnete es. Stilecht. Also besuchte ich das Victoria and Albert Museum und das Natural History Museum. Beide erweckten in mir unerwartet regelrechten Spaß.

      Auch in Berlin ging ich öfter in die zahlreichen Museen, um abspannen zu können. Die erfreuten Kinder hier und die zahlreichen Möglichkeiten, spielend oder unterhaltend zu lernen, trieben mir manchmal doch die Tränen in die Augen, weil ich wünschte, meine Kinder hätten genauso werden sollen. Aber alles in allem, da war ich ehrlich zu mir, was nicht sein kann, sollte ich nicht beweinen. Am Samstagabend setzte ich mich in meinem liebgewonnenen, kleinen Hotelzimmer an die kleine Anrichte und begann, Postkarten zu schreiben. An meine beiden Zimmerkolleginnen, die anderen Kollegen, meine Schwester, meine Eltern und einen Freund aus Potsdam. Mein Freundeskreis war in den letzten sechs Jahren beträchtlich geschrumpft. Vermutlich lag das an mir, weil ich feststellte, die meisten meldeten sich nur, wenn ich helfen sollte, oder aber, sie fanden mich wegen meiner Kinderlosigkeit nicht mehr tragbar und uninteressant. Zwar fragte keiner auch nur einmal nach, doch lehnte ich jegliche Schicksalskommentare ab. Nicht jeder konnte Glück haben.

      Am Sonntagmorgen ging es mir wirklich nicht gut. Das interkontinentale Frühstück lockte mich trotzdem. An diesem Tag wollte ich meinem Helden einen Tribut zollen und fuhr zum Sherlock Holmes Museum. Dieser Besuch kostete mich glatte vier Stunden, dreieinhalb davon zum Anstehen. Essen? Nein, denn ich lief in den Hyde Park, um die Spätsommersonne noch zu genießen. Kurz vor sechs Uhr beendete ich meine Runde durch den gesamten Hyde Park und sank erschöpft in mein gemietetes, frisch bezogenes Bett. Noch bevor ich in meinen erholsamen Schlaf sank, ergänzte ich die Artikel meines Blogs um die beiden ausstehenden Einträge für beide Tage. Dabei entdeckte ich, dass einige Freunde und Bekannte schon darauf zugegriffen hatten. Mich freute das sehr, denn somit war meine Arbeit des Reisetagebuchs nicht ganz umsonst.

      Überhaupt stiegen die Zugriffe meines Blogs in den letzten Monaten stetig an. Fremde kommentierten meinen Blog, ja gaben manchmal sogar Tipps. Doch noch vor zehn Uhr schlief ich bei meinen Gedankengängen für den Montag ein. Montag. Als ich erwachte, schwirrten meine Gedanken an der Fleet Street, dem Strand und Aldwych um die Geschichte. Endlich würde ich mir die Orte ansehen, die meine Schwester so schwärmerisch beschrieben hatte. Erst einmal Frühstück, was ich an diesem Montag besonders genoss. Mir war, als erhole sich mein Körper, doch in meinem Köpfchen tauchten immer öfter die Bilder des Traurigen auf. Die Dusche rieselte herrlich warm über meine Haut und ich wusch mir meine Haare.

      Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Entspannteste im ganzen Land? Doch ich verstand den Spiegel nicht, bei all dem Linksverkehr. Hinzu gesellten sich die wirren Erlebnisse des Freitags. Von wegen Entspannteste. Ich musste meine Frage verneinen, nachdem ich beinahe zwei Minuten die Luft angehalten hatte. Das gesamte Gespräch mit dem grünäugigen Herren wiederholte sich in meinem Kopf dreimal Wort für Wort. Warum hatte ich mir nicht überlegt, wann wir uns trafen? Mist. Wer weiß schon, wie lange Saint Paul‘s mich kosten würde? Elf Uhr stand als Beginn meines Zeitfensters fest. Mir schwante Übles. Nur warum schob ich diesen Unbekannten vor meine Urlaubspläne? Trotzdem herrschte mir