Mord aus kühlem Grund. Achim Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Achim Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750231757
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gefragt.

      »Komm, sei friedlich«, war seine Antwort gewesen. »Die Reise wird ihn bestimmt uff andere Jedanken bringen.« Und jetzt saß Johanna in der Küche und fragte sich, was für Gedanken das wohl sein mochten. Fred schnarchte leise vor dem Fernseher, als sie an ihm vorbeischlich und an Elias’ Zimmertür klopfte. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür. Er saß auf der Fensterbank und hielt ein Comicheft vors Gesicht.

      »Allet klar bei dir?«, fragte sie ihn. Das Comicheft wackelte, als er nickte. Johanna zögerte und blickte sich in seinem Zimmer um, das wie immer penibel aufgeräumt war. Es bot ihr keinerlei Vorwand, länger als unbedingt nötig zu bleiben. Gerade als sie sich umdrehen wollte, fand sie doch einen.

      »Wat liest’n?«, fragte sie möglichst beiläufig.

      »Kennst du doch nicht«, kam es undeutlich zurück.

      »Kenn ick wohl. Lucky Luke hab ick selbst schon jelesen in deim Alter. Der Cowboy, der schneller schießt als sein Schatten, stimmtet?« Wieder wackelte das Comicheft. »Wusste jarnich, dass man dit jetzt vakehrt herum liest«, sagte sie scheinbar verwundert. Elias zog die Nase hoch. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er fieberhaft nach einer Ausrede suchte. Doch es kam keine. »Na denn …«, sagte sie und wollte sich umdrehen, doch da rutschte ein Foto zwischen den Seiten heraus und fiel mit einem harten Geräusch auf den Boden. Elias hielt das Heft weiterhin vor sein Gesicht, als sie sich bückte und das Foto aufhob. Ein ernstblickender blonder Mann war darauf zu sehen zusammen mit einer rothaarigen, sommersprossigen, jungen Frau, die ein scheues Lächeln wagte. Es war vor sechs Jahren aufgenommen worden, kurz vor dem Unfall. Es zeigte seine Eltern, Johannas jüngere Schwester und deren Mann. Sie kannte das Foto gut. Sie hatte es selbst gemacht. Elias versuchte, sich mit einer Hand die Nase zu putzen, während Lucky Luke ihm Deckung gab. Johanna wartete in Ruhe ab. Bei Elias hatte sie gelernt, abzuwarten. Sie legte das Foto auf seinen Schreibtisch, ganz an den Rand. Schließlich entschloss er sich, seine Deckung zu verlassen. Lucky Luke würde schon allein mit den Dalton-Brüdern fertigwerden. Er klappte das Heft zu, sprang vom Fensterbrett und warf es betont lässig auf sein Bett.

      »Wenn du Lucky Luke kennst, dann weißt du bestimmt auch die Vornamen der Daltons.« Er wollte sie auf die Probe stellen. Wollte wissen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte.

      »Joe, Jack, William und Averell«, kam es wie aus der Pistole geschossen oder, in diesem Fall, wie aus dem Revolver. Damit war das Eis gebrochen. Elias warf einen flüchtigen Blick auf das Foto und stellte sich dann ans Fenster, mit dem Rücken zu seiner Tante. »Nur den Namen von dem komischen Hund konnte ick mir nie merken«, gab sie zu. Elias war schon weiter. Sie sah seinem Rücken an, wie er mit etwas zu kämpfen hatte. Sie wartete ab. Die Stille ist schwer zu ertragen für Jemanden, der etwas auf dem Herzen hat, das wusste sie aus eigener Erfahrung.

      »Ich hab was gesehen«, sagte er schließlich leise. Johanna sagte nichts. Für einen Moment war es ganz still in seinem Zimmer. Nur Freds Schnarchen drang schwach von draußen durch die geschlossene Tür. »Heut Morgen hab ich was gesehen«, sagte er und drehte sich zu seiner Tante um.

      »Inner Therme?«, fragte sie. Er nickte zögerlich.

      »Draußen im Garten.«

      »Du meenst, uff dem Jelände?« Wieder nickte er. Dann setzte er sich auf seinen Stuhl am Schreibtisch und drehte sich zu ihr herum. Er zog die Beine hoch, setzte die Fersen auf die Stuhlkante und legte seine Arme verschränkt auf seine Knie.

      »Ich hab einen gesehen, der wie Papa aussah«, sagte er stockend. »Mit denselben Haaren. Und mit dem Gesicht.« Johanna schluckte ihre Verblüffung hinunter.

      »Du meenst, der sah deinem Papa ähnlich?« Er schüttelte den Kopf.

      »Das Gesicht war nur genauso weiß wie das von Papa«, sagte er und schaute sie mit fragenden Augen an. Seine Eltern waren damals im Winter nachts auf der Heimfahrt von einem Besuch bei Freunden mit dem Auto verunglückt. Es war eine einsame, verschneite Landstraße gewesen. Man fand sie erst Stunden später, weil die Schülerin, die in jener Nacht auf Elias aufpassen sollte, eingeschlafen war. Dadurch wurde die Polizei viel zu spät alarmiert. Sein Vater war hinter dem Steuer eingeklemmt gewesen und konnte sich nicht selbst befreien. Seine Verletzungen hätte er überleben können. Doch er konnte sich kaum bewegen. Es herrschten arktische Temperaturen. So erfror er. Elias’ Mutter war unter Schock aus dem umgestürzten Auto ausgestiegen und ohne Mantel losgelaufen. Sie musste die Orientierung verloren haben. Man fand sie fast einen Kilometer von der Unglücksstelle entfernt am Ufer eines zugefrorenen Sees. Elias hatte seine toten Eltern nie zu sehen bekommen, darauf hatte Johanna geachtet. Aber sie hatte ihm erklärt, was passiert war. Den Rest besorgte seine Phantasie. In seinen Träumen hatten seine Eltern schneeweiße Gesichter. Johanna setzte sich vorsichtig auf sein Bett, neben das Comicheft. Sie war jetzt auf gleicher Augenhöhe mit ihrem Neffen.

      »Erzähl mir allet«, sagte sie leise, »wenn du kannst.« Er nickte. Dann legte er sein Kinn auf seine Unterarme und überlegte, wo er anfangen sollte.

      »Ich hab mich vor Onkel Fred versteckt, weißt du. Hinter den Büschen ganz am Rand, wo der Rasen so nach oben ging. Und hinter der Balkontür hab ich mich auch versteckt und gehört, was du von dem toten Mann erzählt hast.« Er wischte sich mit den Fingern die Nase ab. »Da sind zwei Männer gewesen. Die hat keiner gesehen, außer mir, glaub’ ich. Die hatten so orange Westen an. Die sind aber mit einem ganz normalen Auto gekommen, das kam mir komisch vor.«

      »Zwei Sanitäter?«, fragte Johanna.

      »Ja, aber es war kein Krankenwagen. Die haben hinten die Tür aufgemacht und einen Mann rausgeholt. Auf so einer Trage lag der, irgendwie bewusstlos. Der hat sich nicht bewegt unter seiner Decke. Ich konnte sie aber nicht die ganze Zeit sehen. Die haben sich ganz schön beeilt und den Mann reingetragen. Irgendwie sind sie durch den Zaun gekommen, der da überall ist. Und dann waren sie dicht am Haus. In so ’ner Ecke in der Wand, wo man nicht hingucken kann. Die hatten ganz rote Köpfe und der Mann …«, er stockte und wischte sich nochmal die Nase mit den Fingern. Johanna reichte ihm ein Taschentuch. »Der Mann war so komisch weiß im Gesicht. So wie Papa.« Wieder schaute er sie fragend an. Sie sagte nichts, weil sie nach Worten suchte. Elias schnäuzte sich. »Der war bestimmt der Tote«, sagte er leise. Johanna versuchte sich zu konzentrieren.

      »Du hast also zwee Männer, die wie Sanitäter aussahen, beobachtet, wie sie eenen bewusstlosen Mann von ihrem Auto inne Therme jetragen haben. Und die sind vorher auch noch irjendwie durch den hohen Zaun und über den Erdwall jekommen. Weeßt du, wie schwierig dit is?«

      »Die waren groß und stark.«

      »Aber Elias …«

      »Ich habs gesehen. Du glaubst mir nicht. Ich habs aber gesehen.« Elias ballte die Faust mit dem Taschentuch darin. Johanna atmete tief durch.

      »Wat hast du noch jesehen«, fragte sie, immer noch skeptisch. Er antwortete nicht. »Elias komm, jetzt raus mit die Sprache. Hast du noch wat mitjekricht?« Er nahm das Taschentuch in die andere Hand und starrte eine Weile auf das Comicheft, das neben ihr auf dem Bett lag.

      »Da war so’n komischer Schrei und dann noch einer. Aber das war bevor die den Mann über die Wiese getragen haben. Bestimmt zehn Minuten früher. Jedenfalls war’n die dann plötzlich verschwunden«, sagte er trotzig. »Kurz darauf kamen die zwei Männer wieder raus. Die Trage hatten sie dabei und auch die Decke, aber der Mann war weg. Sie haben sich nach allen Seiten umgeschaut und sind dann ganz schnell zu ihrem Auto gerannt und weggefahren.« Er hatte ohne Punkt und Komma geredet. Jetzt schaute er seine Tante an. »Glaubst du’s mir?« Sie nickte langsam.

      »Die Schreie hab ick auch jehört«, sagte sie und erwiderte seinen Blick. »Ich jloobet dir, Elias. Schätze, wir müssen et deim Onkel vaklickern.« Die Zimmertür ging auf.

      »Wat müsst ihr mir vaklickern?«, fragte Fred und gähnte.

      »Erst beantwortest du uns eene Frage«, sagte sie und zwinkerte Elias zu, um die Situation zu entspannen. Fred kratzte sich am Kopf und blickte sich gleichgültig im Zimmer um.

      »Na denn lass ma hörn.«

      »Wie heeßt der komische Hund in den Lucky