»›Einsteins Rübe‹! Wo die Leute nur immer die Namen für ihre Lokale hernehmen«, brummte der Kommissar. Melzick nahm einen großen Schluck von ihrem dschungelgrünen Smoothie und schaute dann in die Runde. Das Lokal war fast voll besetzt. Es befand sich in einem ehemaligen Hangar, der von außen aussah wie ein halbierter, flach auf dem Boden liegender, riesiger Holzeimer. Es gab keine geraden Wände. Das Halbrund des Daches reichte auf beiden Seiten bis auf den Boden. Mehr als vierzig Jahre war darin ein historisches Fliegermuseum untergebracht gewesen bis die Flugveteranen sich entschlossen hatten, in eine größere Halle umzuziehen, die direkt an der Rollbahn des Wörishofer Kleinflughafens lag. Die neuen Inhaber hatten den alten Kasten behutsam renoviert, neue Fenster anstelle der von zentimeterdickem Staub bedeckten Butzenscheiben eingebaut, den Eingang durch breitere Türen einladender gemacht und für eine stilechte Beleuchtung in Form von Petroleumlampen gesorgt, die überall im Raum verteilt waren und sich erst bei genauer Betrachtung als geschickt getarnte LEDs entpuppten. Unter der hochgewölbten Decke hing an dicken Tauen ein Nachbau des legendären Hängegleiters von Otto Lilienthal. Die Wände zierten Fotos historischer Doppeldecker sowie Porträtaufnahmen ehrwürdiger Physiknobelpreisträger. Der berühmteste, der dem Fotografen die Zunge herausstreckte, fehlte allerdings. Dafür tauchte er im Namen des Lokals auf. Tische und Stühle, Geschirr und Besteck, Serviettenhalter und Speisekarte – das alles war im Fünfzigerjahre-Stil gehalten. Neben dem langen dunklen Tresen stand eine Original Wurlitzer Jukebox, die laut dezent angebrachtem Hinweis ausschließlich auf Zehnpfennigstücke reagierte.
»Bin auch zum ersten Mal hier, Chef. Penny Stock hat mir den Tipp gegeben. Sie erzählte was von drei abgebrochenen Physikstudenten, für die nach dem dritten Semester Rezepte erfinden wichtiger war, als Formeln von den Bäumen der wissenschaftlichen Erkenntnis zu pflücken. Da liegt ›Einsteins Rübe‹ als Name doch auf der Hand.«
»Dann hätten sie aber auch ›Schrödingers Katze‹ nehmen können.«
»Da komm ich jetzt zwar nicht ganz mit, aber so viel kann ich Ihnen versichern: Tiere gibt es hier nicht auf den Tellern. Außerdem macht sich Einsteins Kopf deutlich besser auf einer Speisekarte, als eine haarige Mieze«, erwiderte Melzick und hielt ihm die Frontseite der Karte unter die Nase.
»Das mit der Katze erklär ich Ihnen ein andermal. Wenn Sie mir jetzt bitte erklären, was ich mir unter ›zwei panierten Kornkreisen im Senfbad‹ vorzustellen habe.«
»Hört sich nach Experiment an, genauso wie das hier —,« sie fuhr mit den Fingern die Speisekarte entlang, »›ein Teller hausgemachter Parallelen‹.« Zweifel war jetzt ganz von dem Speiseangebot dieses Lokals gefesselt.
»Die lieben hier anscheinend kleine Portiönchen, wenn ich mir das so anschaue: ›Ein Karäffchen Lichtpartikel mit Spektrumrum‹.«
»Speck?«
»Ja, aber ohne ›c‹, dürfte also eher im physikalischen Sinn gemeint sein. Und hier: ›Ein Schälchen dunkle Materie‹. Was in Dreiteufelsnamen soll das sein? Vor allem: Wonach schmeckt es?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht verraten.« Von beiden unbemerkt war einer der drei ehemaligen Physikstudenten an ihren Tisch getreten. Zweifel schaute ihn fragend an. Melzick kratzte sich verblüfft an der Nase. Außer im Fernsehen hatte sie bisher noch niemanden einen echten Frack tragen sehen. Mit seiner dreieckigen Gesichtsform und seiner großen Nase erinnerte sie der junge Mann sehr stark an Fred Astaire in einer seiner Glanzrollen. Er räusperte sich vornehm hinter vorgehaltener Hand. »Wir wissen in der Tat bis heute nicht, woher und wie die dunkle Materie auf unsere Speisekarte kommt. Sie dürfen sie aber gerne probieren.« Zweifel rümpfte die Nase.
»Und was ist mit den Preisen für Ihre Speisen? Wissen Sie die wenigstens, ich kann hier nirgendwo etwas entdecken, Herr Ober.«
»Maitre wäre die korrekte Anrede, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.« Melzick fühlte sich wie in einem Film. »Im Übrigen werden Sie nach erfolgter Nahrungsaufnahme feststellen, dass Preis und Leistung in diesem Teil des Universums ein inniges Verhältnis zueinander haben.«
»Aha. Es beruhigt mich, das zu hören«, gab Zweifel trocken zurück. »Wenn ich mich dann noch nach Ihrer Halbwertzeit erkundigen dürfte. Ich habe nämlich um 17 Uhr einen Termin.« Melzick konnte ein vergnügtes Grunzen nicht unterdrücken. Der Maitre warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er ungerührt antwortete.
»Für diejenigen unserer Gäste, die noch an die Existenz der Zeit glauben, haben wir größtes Verständnis.«
»Das heißt, wir dürfen relativ schnell mit einem Ergebnis unserer Bestellung rechnen?« Der Frack straffte sich in den Schultern.
»Das ganze Leben ist ein Experiment. Probieren Sie’s einfach«, war seine Antwort. Zweifel tauschte einen Blick mit Melzick.
»Schön, ich denke, wir begnügen uns zunächst mit zwei Tellerchen hausgemachter Parallelen und warten ab, was uns noch dazu einfällt.« Der Maitre nickte leicht und entfernte sich auf leisen Sohlen.
»Ich muss unbedingt mit Penny reden«, meinte Melzick. Zweifel lehnte sich entspannt zurück.
»Zweimal Spaghetti«, war im Hintergrund zu hören. Sie schauten sich an und grinsten erleichtert.
»Hoffentlich brauchen wir kein Mikroskop für die Tellerchen und ich hab auch keine Lust mit ’ner Pinzette zu essen«, sagte Melzick. »Ich hab einen Beerenhunger.«
»Darf man das als Veganerin so formulieren?«
»Wenn man es mit zwei ›e‹ schreibt, darf man das«, gab sie zurück und leerte ihren Smoothie. Zweifel nahm einen vorsichtigen Schluck aus seinem Glas.
»Ich hab keine Ahnung, was da drin ist, aber das ist vorläufig egal. Melzick, wir müssen reden.«
»Darauf warte ich schon die ganze Zeit, Chef.« Sie waren direkt von der Therme zum Essen in die Innenstadt gefahren, auf Melzicks Vorschlag hin. Ihr Magenknurren war nicht zu überhören gewesen und Zweifel hatte außer den Sontheimer’schen Pralinen seit dem Frühstück keine feste Nahrung mehr zu sich genommen.
»Ich sollte Klopfer nicht unbedingt warten lassen. Er scheint heute zu den Menschen zu gehören, die ganz besonders an die Existenz der Zeit glauben.«
»Also, dann sag ich Ihnen mal schnell, was Schilling und seine Assistentin mir unter der Folter verraten haben.« Bevor sie loslegen konnte, kam ein junges Mädchen an ihren Tisch.
»Hat Max sich wieder als Maitre aufgespielt?«, fragte sie in leicht genervtem Ton und stellte zwei Tellerchen auf den Tisch, kaum größer als die Gläser einer Pilotenbrille.
»Wir fanden es eigentlich ganz amü… was soll das denn darstellen?«, fragte Zweifel. Das Fräulein, ganz in Schwarz mit einer bodenlangen weißen Schürze, richtete das Augenmerk