»Sie waren also vorher zum Vitalbecken zurückgegangen. Mit dem dicken Badegast im Schlepptau?«
»Genau. Der stellte viele Fragen. Ich versuchte, ihn kurz abzufertigen. Er hatte irgendwie mitbekommen, dass die Haustechnik komplett ausgefallen war, dass die Türen sich nicht entriegeln ließen, die Belüftung streikte und dann kam auch noch das Gas. Ich hab mit einer Kassiererin telefoniert. Ich wusste ja nicht, was da draußen los war. Wollte, dass sie die Leute aufhält. ›Hier gab’s einen Anschlag mit Giftgas‹, keuchte sie ins Telefon. Das war der Moment, wo ich nicht mehr wusste, wie …« Er stockte und wischte sich über das Gesicht.
»Stell ich mir äußerst gefährlich vor«, sagte Zweifel. »So eine Art Panik mit hunderten von Menschen.«
»Es war eine richtige, ausgewachsene Panik, Herr Kommissar, die Leute spielten komplett verrückt.« Zweifel schaute ihn nachdenklich an.
»Aber Sie behielten die Nerven. Und Sie kamen auf die Idee mit dem Bagger. Sehr ungewöhnlich.« Fischli schaute in eine andere Richtung.
»Auf die Idee wär’ ich vermutlich nicht gekommen«, sagte Adnan.
»Das kannst du nicht wissen«, erwiderte Fischli leise, »niemand kann wissen, was er in einer solchen Situation tut.«
»Da haben Sie Recht«, sagte Zweifel. »Was mich zu meiner nächsten Frage bringt. Gibt es denn in Ihrem Haus so etwas wie einen Notfallplan?«
»Wir haben ein Sicherheitskonzept. Das ist aber hauptsächlich vorbeugend ausgerichtet«, sagte Adnan. »Was ist zu tun, damit keine Katastrophen passieren. Wie verhält man sich, damit niemand zu Schaden kommt. Vor allem die Therme nicht«, fügte er leise hinzu.
»Da steht aber nicht drin, wie man reagieren soll, wenn eine Menschenmenge außer Rand und Band geraten ist. Sowas kann man nicht üben«, ergänzte Fischli. Sie standen nun schon eine ganze Weile im hinteren Saunabereich. Die Temperatur war hier auch außerhalb der Saunaräume schweißtreibend hoch. Dennoch spürte Zweifel plötzlich einen kühlen Luftzug.
»Gibt es hier irgendwo eine Tür, die nach draußen führt?«
»Äh ja, hier um die Ecke, kurz vor der Kräutersauna, gibt es eine Glastür«, sagte Fischli, »die ist aber immer abgeschlossen.«
»Die wird auch nie benutzt«, bestätigte Adnan.
»Ist ja auch ziemlich versteckt«, sagte Fischli. »Wollen Sie mal sehen?« Er ging ein paar Schritte voraus, bog um zwei Ecken und blieb nach wenigen Metern verblüfft stehen.
»Steht offen, nicht wahr?«, sagte Zweifel schon bevor er ihn erreicht hatte. Fischli wollte bereits durch die leicht angelehnte Tür nach draußen.
»Warten Sie«, sagte Zweifel, »ich möchte da erst mal die Spurensicherung ranlassen.« Sie standen zu dritt nebeneinander vor der schmalen Glastür und blickten über den kleinen, künstlichen See hinüber zu den Saunablockhäusern, die menschenleer dalagen.
»Denken Sie, das hat was zu bedeuten?«, fragte Fischli. Zweifel drehte sich wortlos um und ging ein paar Schritte zurück, während er sein Handy herausholte und den Auftrag gab, das Außengelände abzusuchen.
»Schauen Sie sich auch die künstliche Insel im See an und vor allem den Zaun auf der westlichen Seite.« Dann drehte er sich zu den beiden Männern um. »Der Mann, den Sie gefunden haben, ist ertrunken.« Sie starrten ihn an. »Er hat das nicht freiwillig getan. Die Frage ist: Wie kam er in die Sauna, und zwar unbemerkt? Wir haben nämlich bisher noch niemanden gefunden, dem etwas aufgefallen wäre.«
»Dann muss er ja getragen worden sein«, murmelte Adnan leise und schlug die Hand vor den Mund.
»Das muss doch jemand beobachtet haben«, sagte Fischli.
»Etwas beobachten und etwas merkwürdig finden, das gibt es nicht oft bei Erwachsenen, weil die meisten das meiste schon mal irgendwo gesehen haben«, sagte Zweifel. Er wog sein Handy in der Hand. »Nur bei Kindern ist das etwas anderes.«
Als er aufwachte, hatte er einen scheußlichen Geschmack im Mund. Sonst hatte er nichts im Mund. Der Knebel war verschwunden. Er befühlte erleichtert mit der Zunge seine Zähne und seinen Gaumen. Er musste husten. Er wälzte sich aus der Seitenlage auf den Bauch und versuchte, irgendwie auf die Knie zu kommen, was ihm mit einiger Mühe trotz seiner gefesselten Arme und Beine schließlich gelang. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war. In den fensterlosen Keller drang kein Licht von außen. Nur unter der Tür war ein schmaler Lichtstreifen zu sehen. Künstliches Licht. Es roch nach Essig und nach Äpfeln. Er hörte Männerstimmen ruhig miteinander reden. Und er hörte Wasser tropfen. Schemenhaft konnte er am Kopfende der Matratze einen großen Behälter erkennen. Eine Wanne oder ein Bottich vielleicht, dachte er mit leichtem Unbehagen. Dann wurde ihm bewusst, dass die Männerstimmen verstummt waren. Er kniete auf der alten, feuchten Matratze und starrte auf den schmalen Lichtstreifen unter der Tür, der sich verdunkelte. Die Tür wurde geöffnet. Das künstliche Licht blendete ihn.
»Florian Kronberger«, sagte eine unnatürlich hohe Stimme, »wie geht es Ihnen?« Moritz Kronberger lief ein Frösteln über den Rücken. Die Person, die ihn mit dem falschen Namen angeredet hatte, war als dunkle Silhouette im Türrahmen stehengeblieben. Er räusperte sich und bekam einen Hustenanfall. Ein zweiter Schatten machte sich bemerkbar.
»Ich bin nicht …«, begann Moritz und rang nach Atem. Er kniete gefesselt auf der Matratze und versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der zweite Schatten löste sich von der Silhouette und kam wortlos mit schweren Schritten näher. Er blieb neben dem Holzbottich stehen, den Moritz nun gut erkennen konnte. Das Wasser stand schwarz bis kurz unter dem Rand. Moritz versuchte vergeblich, die Gesichter der beiden zu erkennen.
»Florian Kronberger«, wiederholte die hohe Stimme, »wie geht es Ihnen?« Er schüttelte vorsichtig seinen Kopf. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Nacken.
»Ich bin nicht …«, begann er erneut und holte tief Atem. Auf einen solchen Irrtum war er nicht vorbereitet. »Moritz Kronberger, verdammt!«, stieß er hervor.
»Das wissen wir«, sagte die hohe Stimme.
»Nein, nein, Sie wissen gar nichts!« Er zwang sich gewaltsam zur Ruhe, was für einen vierzehnjährigen Jungen nicht einfach war. »Ich bin nicht Florian, ich bin Moritz Kronberger. Sie haben den Falschen«, brachte er, mühsam beherrscht, hervor. Der Wasserbottich mit seinem schwarz schimmernden Inhalt nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Eine unausgesprochene Drohung ging von ihm aus. »Moritz Kronberger bin ich«, wiederholte er störrisch und mit rauer Stimme. Seine Kehle war ausgedörrt, er spürte brennenden Durst. Die beiden Schatten schwiegen. »Kann ich etwas zu trinken haben?«, fragte er stockend. »Sie haben gefragt, wie es mir geht. Ich habe Durst. Ich will was trinken!«
»Wir haben gefragt, wie es Florian Kronberger geht«, antwortete stoisch die hohe Stimme.
»Ich bin nicht Florian!«, schrie er in plötzlicher Wut. »Florian ist mein Bruder, ich bin Moritz, verdammt!«
»Ihr Bruder ist bereits tot«, sagte die hohe Stimme unbeteiligt.« Moritz traute seinen Ohren nicht. Sein Herz machte einen Satz. Fassungslos schüttelte er seinen Kopf. Seine Lippen formten lautlos die Worte. Er starrte die Schatten an, die unbeweglich warteten. Das Kratzen in seinem wunden Hals ließ ihn nur flüstern.
»Was? Was haben Sie da gesagt? Sie haben meinen Bruder …?«
»Er ist ertrunken«, sagte die hohe Stimme, »wie es geplant war.«
7. Kapitel
Elias war verschwunden. Gleich nach dem Abendessen hatte er sich in seinem Zimmer verkrümelt und war seither nicht mehr aufgetaucht. Das war ungewöhnlich. Gewöhnlich war er vom Fernseher nicht wegzukriegen.
»Tagsüber liest er, abends glotzt