Bellzazar verstand und gab ihm die Phiole mit dem Gift.
Sie nickten sich noch einmal zu und Bellzazar sagte zuversichtlich: »Wir treffen uns bei den Pferden.«
Desiderius hoffte es, denn er hatte nicht vor, heute zu sterben.
Er blieb im Schatten, als Bellzazar wieder verpuffte und kurz darauf Gestalt auf dem Dach annahm. Sein Umhang umhüllte ihn nun komplett. Erst passierte gar nichts, doch schließlich wurde die schwarze Gestalt auf dem Dach bemerkt.
Die Wachen brüllten und Bellzazar lief los. Chaos brach aus.
Dieser Moment war Desiderius’ einzige Gelegenheit, die Soldatenvorräte unbemerkt zu erreichen. Er rannte über den vereisten Hof zu der unscheinbaren Holztür.
Schlitternd kam er zum Stehen. Er packte den Türriegel, doch dieser bewegte sich nicht.
Hektisch rüttelte er daran, doch es änderte nichts an der Tatsache, dass die Tür verschlossen war.
Desiderius verfluchte sich innerlich, er hätte es vorhersehen müssen.
Er könnte die Tür ohne weiteres aufbrechen, doch niemand durfte bemerken, dass jemand bei den Vorräten war. Die kommenden Ereignisse durften nicht auf einen Einbruch zurückzuführen sein. Es musste alles nach einem Unglück aussehen und nicht nach einem hinterhältigen Anschlag.
Desiderius trat frustriert gegen die Tür. Er hörte die Glocke, die weitere Wachmänner alarmierte, er hörte die Rufe und herannahende Stiefel, die über den vereisten Boden rannten.
Nervös blickte er sich nach einer anderen Möglichkeit um, denn er wollte nicht gehen, ohne den Auftrag durchgeführt zu haben.
Sein Blick fiel auf den Brunnen in der Mitte des Hofes, der vom grellen Mondlicht angestrahlt wurde, als zeigten die Götter auf ihn, damit Desiderius ihn erblickte.
Zweifelnd blickte er auf die Phiole in seiner Hand. Sie hatten nur den Auftrag, die Soldaten zu schwächen. Der Brunnen hingegen war für alle Bewohner und sogar für die umliegenden Dörfer zugänglich. Das Wasser dort war das einzig trinkbare Wasser im Gebirge, weil der Brunnen bis tief in den Berg reichte, wo das Wasser durch Gestein gefiltert wurde.
Verdammt, das übertraf nun wirklich alles an Boshaftigkeit. Doch die Wachen nahten, und er musste sich schnell entscheiden.
Er stampfte zum Brunnen und riss dabei den Verschluss aus Wachs auf.
Am Brunnen angekommen kippte er die grünliche Flüssigkeit in das Wasser. Dort würde es sich auflösen und nicht mehr zu sehen sein, sobald die Leute es tranken oder zum Kochen benutzten.
Sein Gewissen lastete schwer auf ihm, aber er schob die unschuldigen Opfer vorerst beiseite, als er das Klimpern der Rüstungen der Wachen hörte. Gleich würden sie um die Ecke biegen.
Er wandte sich ab und verschwand unbemerkt in der Tür zum Kerker.
Dort war es jedoch auch nicht ungefährlicher. Bereits nach der ersten Treppe musste er zwei Wachen ausweichen und sich unter einer Folterbank verstecken. Er kniete in Blut und anderen Ausscheidungen eines kürzlich gefolterten Opfers.
Der Alarm hatte auch die Wachen im Kerker aufgeweckt, was es ihm erschwerte, unbemerkt wieder zu verschwinden. Zumal er sich zweimal verlief, ehe er den richtigen Weg nach draußen fand.
Der klare Sternenhimmel wirkte unpassend ruhig, als er einige Zeit später aus der Ruine heraustrat und durch den Schnee auf den Waldrand zu stampfte. Er fühlte sich schlecht wegen dem, was er getan hatte. Andererseits mussten einige schwere Entscheidungen getroffen werden, um die restlichen Völker zu schützen. Eiskalte Berechnung, darin war er gut.
Was er getan hatte, war schlimm, aber Krieg wäre es auch.
Bellzazar wartete schon im Schatten des Waldes auf ihn. Er saß im Sattel auf seinem schwarzen Hengst und hielt die Zügel von Desiderius’ Rappen in der Hand.
Es fing wieder zu schneien an, aber dieses Mal begrüßte Desiderius die weißen Flocken, sie würden ihre Spuren bis zum Morgengrauen verschwinden lassen.
Lächelnd übergab Bellzazar ihm die Zügel.
Desiderius schwang sich in den Sattel und riss die Zügel herum. »Los, lasst uns von hier verschwinden.«
»Habt Ihr es geschafft?«, fragte Bellzazar.
Desiderius schüttelte den Kopf. »Die Tür war verschlossen.«
Die Mimik des Halbgottes verdüsterte sich wütend. »Dann habt Ihr nicht den Kornspeicher der Soldaten vergiftet?«
»Nein«, bestätigte Desiderius. »Aber das Brunnenwasser.«
Der Halbgott stockte verwundert.
»Die Tür war verschlossen, was hätte ich machen sollen?«, fuhr Desiderius ihn an, weil er glaubte, verurteilt zu werden. »Hätte ich sie aufgebrochen, wären sie stutzig geworden und hätten das Korn vielleicht nicht angefasst. Oder schlimmer noch, sie hätten gewusst, dass jemand sie absichtlich vergiftet hat. Jetzt ist das Gift im Trinkwasser, sie werden krank werden und einige werden sterben, das ist das, was wir beabsichtigt haben, oder nicht? Ich habe nur meine Aufgabe erfüllt.«
Zu seiner eigenen Überraschung lächelte der Halbgott ihn beeindruckt an. »Ich verurteile Euch nicht, ich habe Euch nur nicht zugetraut, dass Ihr unschuldige Opfer in Kauf nehmt.«
»Ein Mann muss tun, was er für sein Volk und sein Land tun muss«, murmelte Desiderius.
Plötzlich entflammte eine Fackel auf der Mauer und sie hörten Rufe der Wachen, die durch die Ruine streiften, auf der Suche nach dem nächtlichen Besucher.
»Los, verschwinden wir«, beschloss Bellzazar und trieb sein Pferd in den Galopp.
Desiderius ritt ihm mit gleicher Geschwindigkeit hinterher.
Die Hufe ihrer Pferde donnerten auf den Boden, Schnee wirbelte auf, während sie schnell den Berg hinab galoppierten. Desiderius verlor einen seiner Dolche, der sich durch den holprigen Galopp aus der Vorrichtung gelöst hatte. Aber obwohl es eine recht wertvolle Klinge war, achtete er gar nicht weiter darauf, er wollte nur schnellstmöglich verschwinden.
Sie benutzten keine Wege, sondern ritten quer durch den Wald, um es möglichen Verfolgern zu erschweren, ihnen zu folgen.
Als sie in die Tiefen Wälder gelangten, schnaubten ihre Pferde bereits außer Atem, sie selbst keuchten ebenfalls angestrengt. Tiere und Reiter waren erschöpft wegen des gefährlichen, hastigen Rittes, der sie bergab über vereiste Wurzeln und verschneite Blätterhaufen geführt hatte.
Es war noch immer mitten in der Nacht und sie waren noch immer im Gebirge, aber weiter im Westen und wieder in den Tiefen Wäldern, in denen sich nur die zu recht fanden, die darin aufgewachsen waren.
»Wir sollten hier lagern«, schlug Bellzazar vor. »Schonen wir unsere Kräfte für den Heimritt.«
Desiderius stimmte zu: »Suchen wir uns einen kleinen Unterschlupf, es ist zu riskant, ein Feuer zu entfachen oder das Zelt aufzuschlagen.«
Bellzazar nickte zustimmend.
Sie glitten beide aus ihren Sätteln und führten ihre Pferde an den Zügeln durch den Wald, auf der Suche nach einer Höhle oder einem höhlenähnlichen Felsvorsprung.
Nur wenig Zeit später saßen sie Schulter an Schulter aneinander gedrängt unter dem Vorsprung eines Felsens. Reichlich Schnee fiel vom Himmel und versperrte ihnen die Sicht. Das grelle Mondlicht des Vollmondes strahlte auf den schneebedeckten Boden und erhellte den Wald. Es blendete in Desiderius’ Augen, der sich mit grübelnder Miene den Umhang noch enger um die Schultern zog.
Bellzazar rückte noch näher an ihn heran, Wärme strahlte von seinem Körper ab und vertrieb die äußere Kälte, doch innerlich fröstelte Desiderius noch immer, egal, wie nahe ihm der Halbgott kam.
Er hatte ja schon viele fragwürdige Dinge getan. Desiderius