Mit Weite im Herzen. Ronja Erb. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ronja Erb
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742749482
Скачать книгу
nicht verrückt“, unterbrach ich ihren Monolog.

      „Doch“, sagte Marlis mit Nachdruck. „Wie kann man nur seine Lebensplanung von einem so zufälligen Ereignis abhängig machen? Wenn der Pfeil auf Hongkong gelandet wäre, dann würdest du nach Hongkong gehen oder was?“

      „Nein, er ist dort gelandet, wohin die Vorhersehung mich führen wollte. Das klingt zwar etwas esoterisch, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es kein Zufall war.“

      Ich konnte förmlich hören, wie Marlis ihre Stirn in Falten legte. „Du wirst dich dort unendlich einsam fühlen“, sagte sie.

      „In Hamburg fühle ich mich einsam“, entgegnete ich, „hier wo mich alles an Rolf erinnert und sich in mir alles zusammenkrampft, wenn mir bewusst wird, dass er für immer fort ist“.

      „Aber ich bin doch auch noch da“, wandte Marlis ein.

      „Ja“, sagte ich, „dich werde ich vermissen. Aber mal ehrlich, Marlis, du bist in München und in den letzten Jahren haben wir uns höchstens zwei oder drei Mal pro Jahr gesehen. Die Arbeit, die Kinder, du weißt doch, wie schwer es immer war, einen Termin zu finden. Du bist in dein Leben eingebunden, und das ist gut so. Ich freue mich für dich, aber ich habe jeglichen Halt verloren. Es ist Zeit, einen Neuanfang zu wagen.“

      „Alleine nach Namibia, das ist wahnsinnig …“, und nach einem kurzen Zögern setzte Marlis ihren Satz fort: „gefährlich.“

      „Ich werde nicht allein gehen.“

      „Ach so.“ Ich konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. „Wer geht denn mit dir?“, fragte sie und ohne meine Antwort abzuwarten, mutmaßte sie: „Es ist sicher dieser Lars, den ich das letzte Mal kennengelernt habe, als ich bei dir war. Sagtest du nicht, dass er beruflich immer viel im Ausland unterwegs ist?“

      „Lars ist es nicht“, sagte ich zögernd.

      Bevor ich ausreden konnte, warf Marlis ein: „Er ist aber ein sympathischer Mann.“

      „Ja, da hast du recht, er ist wirklich ein feiner Kerl.“ Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Und wenn du so willst, dann kommt er auch mit, teilweise zumindest, denn ich bin schwanger. Von ihm.“

      „Schwanger? Du bist schwanger! Von diesem Lars?“

      „Ja.“

      Im Hintergrund hörte ich Jonas, Marlis' ältesten Sohn, fragen, wer am Apparat sei. „Helen, deine Patentante, die völlig verrückt geworden ist“, antwortete ihm Marlis. Und an mich gerichtet sagte sie: „Also sind es die Hormone, die dich so durcheinanderbringen.“

      Mir wurde es langsam zu lästig, gegen das Unverständnis von Marlis anzureden, daher behauptete ich, um einen Vorwand zu haben, auflegen zu können: „Ich habe einen Termin und muss Schluss machen, ich melde mich wieder bei dir.“ Als ich schon fast aufgelegt hatte, hörte ich noch, wie Marlis sagte: „Wenn du Babykleidung brauchst, dann kann ich dir die von Hendrik geben, die habe ich noch im Keller.“

      Nach einer erholsamen, traumlosen Nacht, in der ich so tief wie schon lange nicht mehr geschlafen hatte, fragte ich mich nach dem Aufwachen, was ein Säugling in Namibia wohl für Kleidung trägt. Ich legte meine Hand auf meinen Bauch und spürte die Wärme, die von ihr ausging und durch meinen Körper hindurchströmte. Ich versuchte, etwas zu fühlen, eine Bewegung, ein Strampeln. Mir war bewusst, dass das Kind noch zu klein war, um es schon spüren zu können, aber ich wollte gerne mit ihm Kontakt aufnehmen, um ihm von seiner Zukunft, von Afrika, zu erzählen.

      Nachdem ich eine Weile so dagelegen und die morgendliche Übelkeit überwunden hatte, stand ich auf und holte mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Noch während ich den Joghurt aß, machte ich den Computer an und suchte im Internet nach Informationen über Namibia.

      Es gab unzählige Webseiten, ich klickte mich von einer zur anderen und las, mal genau, mal quer, alles durch, was ich finden konnte. Wie ein Schwamm saugte ich die Informationen auf, klickte viele Bilder an und suchte auch unter dem Begriff „Rundu“. Am liebsten wäre ich gleich in ein Reisebüro gegangen, um mich nach Flügen zu erkundigen, aber da Sonntag war, konnte ich nur in den Onlineangeboten suchen.

      Den Tag verbrachte ich mit Surfen, und ich unterbrach es nur, um an den Kühlschrank zu gehen, um etwas zu essen, und ein Mal, um ans Telefon zu gehen, aber es hatte sich nur jemand verwählt. Am Abend war mein Kopf vollgefüllt mit Informationen über Namibia, ich hatte mich auch über Einreisebestimmungen erkundigt und am Schluss sogar einen Flug online gebucht. Der Flug war für März reserviert, das war noch dreieinhalb Monate hin; genug Zeit, um alles zu organisieren.

      Die letzten Wochen in Hamburg vergingen rasend schnell, die Vorbereitungen versetzten mich in einen regelrechten Rausch. Marlis rief regelmäßig an, um zu hören, ob ich mittlerweile zur Vernunft gekommen sei, wie sie es ausdrückte. Doch ihre negative Sicht bestärkte mich in meiner Entscheidung noch mehr. Nur vereinzelt ließ ich mich dazu hinreißen, meine Pläne infrage zu stellen, aber die Zweifel verschwanden in aller Regel so schnell, wie sie gekommen waren. Freunde, Bekannte und Kollegen reagierten ganz unterschiedlich auf mein Vorhaben, von Entsetzen bis Begeisterung war alles dabei. Zu manchen entstand aufgrund ihrer Begeisterung eine ganz besondere Nähe, von anderen hingegen, die alles kritisch sahen, entfernte ich mich innerlich. Es erstaunte mich, wie viel Wirkung so ein Vorhaben auf das eigene Umfeld hat. Die einen zogen sich beleidigt zurück, als hätte man sich persönlich gegen sie entschieden, und andere versprachen sofort, ihren nächsten Urlaub in Namibia zu verbringen.

      Schließlich hatte sogar Marlis eingelenkt, was mir wichtig war, legte ich auf ihre Meinung doch sehr viel Wert. Ich hatte mit ihr und ihrer Familie das Weihnachtsfest verbracht, und wir hatten viel Zeit gehabt, über meine Pläne zu sprechen. Sie hatte sogar versprochen, mich zum Flughafen zu bringen. Eigentlich war das natürlich eine irrwitzige Idee, von München nach Hamburg zu kommen, um jemanden zum Flughafen zu begleiten, aber es war uns beiden so wichtig, dass ich zugestimmt hatte.

      Wie leicht es war, sich aus einem Leben, einem Land, einer Gesellschaft zu verabschieden. Einfach abmelden und gehen, so war es mir vorgekommen. Der eigentliche Abschied war dann aber doch nicht so einfach gewesen.

      Am Morgen vor der Abreise wollte ich alles abblasen. Ausgerechnet Marlis überzeugte mich dann davon, dass es gut sei zu fahren. Sie meinte, dass ich alles vorbereitet und seit Wochen nur auf diesen einen Tag hingelebt hätte, sodass ich nun auch nach Namibia fliegen solle. Wenn es mir dort nicht gefiele, dann könne ich ja wieder zurückkommen, tröstete sie mich. Ich lehnte mich an ihre Schulter und fragte wie ein kleines Kind: „Nimmst du mich auf, wenn ich wieder zurückkomme?“

      Sie streichelte mir über den Kopf und sagte sanft: „Ja, natürlich.“

      Als wir zum Flughaften fahren wollten, druckste Marlis rum und zögerte die Abfahrt bis auf die letzte Minute hinaus, sie wollte mir aber nicht sagen, warum. Als ich dann im Flughafen, nachdem ich gerade durch die Kontrolle zum Boardingbereich gegangen war, hinter der großen Scheibe Lars entdeckte, der abgehetzt angelaufen kam und durch die Scheibe wild gestikulierend Luftküsse schickte, wusste ich warum und brach in Tränen aus. Mein Körper verkrampfte sich, und ich musste mich auf eine Bank setzen. Ich hatte Lars seit Wochen nicht mehr gesehen, er war erst vor Kurzem von einer längeren Geschäftsreise aus dem Ausland zurückgekommen. Die wenigen Telefonate, die wir zwischenzeitlich geführt hatten, waren meist kurz gewesen, und meine Pläne, nach Namibia zu gehen, hatte er nicht ernst genommen. Er hatte Witze darüber gemacht und gedacht, das sei eine meiner vielen Verwirrungen, die ich in den letzten Monaten zur Genüge durchgemacht hatte.

      Ich hörte die Durchsage, man rief meinen Namen aus, es war die letzte Aufforderung zum Einsteigen. Ich schnäuzte in ein Taschentuch, sah nochmals kurz zu Lars und erhob mich dann von der Bank. Ich war froh, dass meine Jacke den Babybauch, den man zu Beginn des sechsten Monats nun schon sehen konnte, verdeckte.

      Ich hatte Lars immer noch nichts von der Schwangerschaft erzählt und auch Marlis das Versprechen abgerungen, dass sie ihn auf keinen Fall darüber informieren würde. Aber als ich im Flugzeug saß, wünschte ich mir plötzlich, dass Marlis ihm alles erzählen würde, und dass Lars den nächsten Flieger