Das, was meinem Leben in dieser schweren Zeit am meisten Halt gegeben hatte, war meine Arbeit als Bauzeichnerin in einem kleinen Hamburger Architektenbüro gewesen. Meine Kollegen haben mich nach dem Unfall mit ihrem Verständnis unterstützt und oft versucht, mich von meiner Trauer abzulenken oder sogar aufzuheitern. Ich habe dann zwar gelächelt, aber sobald keiner mehr hingesehen hat, habe ich dieses Lächeln fallen lassen, als würde ich eine Maske absetzen.
Man hatte mir angeboten, für eine Weile auszusetzen. Ich könne mir Urlaub nehmen, solange ich wolle, hatte mein Chef gesagt. Doch das wollte ich nicht. Was hätte ich alleine zu Hause machen sollen? Noch weiter in meiner Trauer versinken, mich noch einsamer fühlen, als ich mich ohnehin schon fühlte? Mein Chef hatte vorgeschlagen, dass ich verreisen könne, mal ganz abschalten, auf neue Gedanken kommen.
Verreisen? Was hatte er sich bei diesem Vorschlag gedacht? Hätte ich alleine an einer Strandbar sitzen und mich dabei an die Urlaube mit Rolf erinnern sollen? Früher war mir die Idee, alleine in den Urlaub zu fahren, immer spannend vorgekommen, als ein Ausdruck ultimativer Freiheit und Unabhängigkeit. Gemacht habe ich das dann aber nie. Nach dem Unfall ist es mir absurd vorgekommen, alleine zu verreisen, nämlich als Ausdruck unendlicher Einsamkeit.
Alles, was ich wollte, war, das bisschen Alltag zu erhalten, das noch geblieben war. Also war ich weiterhin ins Büro gegangen, auch wenn ich dort anfangs nicht in der Lage gewesen war, meine Arbeit zu erledigen. Aber meine Kollegen haben mich unterstützt, wo es nur ging, und so habe ich es dann doch nach und nach geschafft, wieder Aufgaben zu übernehmen. All die gut gemeinten Versuche meiner Kollegen, auf mich einzugehen, haben mich aber oft noch trauriger gemacht oder gar befremdlich auf mich gewirkt. An manchen Tagen habe ich das ganz intensiv gespürt. Es sind die Tage gewesen, an denen ich überzeugt war, nach der Arbeit nach Hause zurückzukommen und Rolf dort anzutreffen. So, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen, aus dem man erwachen könnte.
Erwacht, zumindest in gewissem Sinn, war ich jetzt. Das befreiende Lachen schien der Beginn des Endes meiner monatelangen Trauer zu sein. Wo waren all die Schrecken geblieben, die vielen Tage, in denen ich mich vom Leben überfordert gefühlt habe, und die dunklen, nicht enden wollenden Nächte? Ich hatte den Eindruck, dass sich all das auf einmal aufgelöst hatte, wie Eis in der Sonne geschmolzen war, dabei schien heute nicht mal die Sonne. Ganz im Gegenteil, es war ein grauer Novembertag. Es war kein Tag, von dem man glaubt, dass er einem einen solchen Gefühlswandel beschert. Ich beschloss, mich dieser neu gewonnenen Leichtigkeit hinzugeben. Ich wollte das Leben wieder genießen und mich nicht fragen, ob ich nach diesem Schicksalsschlag überhaupt noch das Recht dazu hatte. Das war ich mir schuldig, mir und dem Baby, das in meinem Bauch heranwuchs.
Rolf war ein Mann, den man als gute Partie bezeichnen würde. Wir hatten uns damals Hals über Kopf ineinander verliebt, als wir uns nach einem Vortragsabend beim anschließenden Sektempfang kennengelernt haben. Schon nach den ersten Sätzen, die wir miteinander wechselten, hatte es zwischen uns angefangen zu knistern. Rolf hatte in Gengenbach, einer kleinen Stadt im Schwarzwald, in der ich aufgewachsen bin, einen Vortrag gehalten, und ich hatte mir den damals schon in seinem Fachgebiet bekannten Experten nicht entgehen lassen wollen, da das Vortragsthema zu meiner soeben begonnenen Ausbildung als Bauzeichnerin passte.
Nach dem ersten Kennenlernen waren ein paar Verabredungen gefolgt, und schon nach kurzer Zeit waren wir ein Paar. Mein Vater war hochzufrieden gewesen, als ich ihm das erzählte. In seinen Augen hatte ich mir nun endlich einen vernünftigen Mann ausgesucht, einen erfolgreichen Architekten, wie er gern betonte. Für meine vorherigen Freunde hatte er nur zynische Bemerkungen übriggehabt. Sie waren alle nicht das gewesen, was er sich für seine Tochter vorgestellt hatte.
Nach Abschluss meiner Ausbildung haben Rolf und ich geheiratet. Kurz nach der Hochzeit hatte Rolf vorgeschlagen, nach Hamburg umzuziehen. Er hatte dort eine Stelle als Assistenzprofessor an der Universität angeboten bekommen. Ich war einverstanden gewesen und so hatten wir unsere Wohnung in Offenburg, wo wir gemeinsam gewohnt hatten, aufgelöst und waren nach Hamburg gezogen.
Die erste Zeit in Hamburg war für Rolf und mich unbeschwert und glücklich verlaufen. Wir unternahmen Wochenendausflüge ans Meer, machten lange Spaziergänge und liebten uns in den Dünen. Auch eine Anstellung hatte ich schnell gefunden, und die Arbeit hatte mir großen Spaß gemacht.
Nur neue Kontakte hatten sich nicht so zahlreich ergeben, wie ich mir das erhofft hatte. Letztlich hatte sich in der ganzen Zeit nur eine richtige Freundschaft entwickelt – mit Lars. Wir hatten uns eines Nachmittags in einem Café in der Innenstadt kennengelernt. Ich hatte dort Zeitung lesend an einem großen Tisch gesessen. Da alle anderen Tische belegt gewesen waren, hatte er sich zu mir gesetzt. Nachdem wir beide eine ganze Weile, jeder an seinem Tischende, schweigend und in unsere Zeitungen vertieft dagesessen hatten, waren wir über einen Witz des Kellners ins Gespräch gekommen.
Lars war in den letzten Jahren zu einem guten Freund geworden. Er war anfangs wohl etwas verliebt in mich gewesen, hatte sich das aber nicht wirklich anmerken lassen. Es war gerade so viel gewesen, dass ich mich dadurch geschmeichelt fühlte, es aber unserer Freundschaft nicht im Wege stand. Vielleicht war ich auch ein wenig in ihn verliebt gewesen. Ich habe mir diese Frage aber nie ernsthaft gestellt, denn ich war mit Rolf so glücklich, dass mein Herz ohne jeden Zweifel ihm gehörte. Die Gefühle für Lars waren, wenn überhaupt, nur eine Schwärmerei gewesen.
Wie stark die Freundschaft mit Lars bereits war, habe ich nach dem Tod von Rolf und meinen Eltern gespürt. Lars stand mir in dieser Zeit zur Seite wie kein anderer. Er war es letztlich auch, der sich nach dem Unfall um alles kümmerte, der alle Formalitäten regelte, zu denen ich aufgrund meiner Niedergeschlagenheit und Erschöpfung nicht in der Lage war. Er hielt mich im Arm und beruhigte mich, wenn mich wieder und wieder Weinkrämpfe überfielen.
Die Trauer hatte mich an so vielen Orten überwältigt. Überall waren Erinnerungen an das Leben mit Rolf. Wir hatten zwar erst drei Jahre in Hamburg gelebt, aber es fühlte sich an, als wäre Rolf dort nach seinem Tod präsenter als zuvor. Ich sah ihn winkend die Straße mit dem Fahrrad hochfahren. Oder ich sah ihn mit einem Blumenstrauß hinter dem Rücken um die Ecke kommen, so wie an unserem ersten Hochzeitstag. Hunderte solcher kleinen Szenen sind in meinem Kopf gekreist, und sie sind mir täglich wieder begegnet.
So schwierig es für mich nach dem Unfall auch gewesen ist, in Hamburg zu sein, so hat es mir in Bezug auf die Trauer um meine Eltern geholfen. Wir lebten ja schon lange nicht mehr zusammen, und in Hamburg waren sie nur zwei Mal zu Besuch gewesen. Daher gab es auch nicht so viel, was mich im Alltag an sie erinnerte. Um schmerzenden Erinnerungen an meine Eltern aus dem Weg zu gehen, war ich nach ihrem Tod auch nur ein einziges Mal in ihr Haus in Gengenbach gefahren. Erst hatte ich gar nicht hinfahren wollen. Der Gedanke, das Haus leer vorzufinden, war mir unerträglich erschienen, aber Lars überzeugte mich davon, dass es nötig war, um einige Dinge zu regeln, und so fuhren wir zusammen hin. Im Haus war es sehr still, trotzdem machte es den Eindruck, als hätte es gerade erst jemand verlassen, um nur schnell zum Einkaufen zu gehen.
Beim Reingehen ins Haus war ich über eine halb gefüllte Gießkanne gestolpert, die neben einem großen Blumenkübel im Flur stand. Das Wasser ergoss sich auf die Fliesen, und ich war in die Küche gegangen, um einen Lappen zu holen. Lars half mir dabei, das Wasser aufzuwischen, anschließend schüttelte er die Gießkanne kurz, um zu prüfen, ob noch Wasser drin war, und goss das restliche Wasser in den Blumentopf. Wir sahen uns an und dachten wohl dasselbe. Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte ich: „Das Orangenbäumchen haben meine Eltern vor sechs Jahren aus einem Urlaub in Sizilien mitgebracht und mühselig hochgezogen.“
„Willst du es mitnehmen?“, hatte Lars gefragt.
„Nein, das möchte ich nicht. Der Orangenbaum ist zwar wunderschön, aber er muss im Sommer draußen stehen und im Winter einen hellen und kühlen Platz haben. Das kann ich ihm in meiner Stadtwohnung nicht bieten. Er muss mit dem Räumungsverkauf entsorgt werden.“ Während ich das sagte, hatte ich mich umgesehen und versucht, mir vorzustellen, wie das Haus aussah, wenn alle Zimmer ausgeräumt waren. Ein kalter