Rolf hatte mir ein bisschen Vermögen hinterlassen, sodass ich die erste Zeit nicht zu arbeiten brauchte und mir auch ein kleines Haus kaufen konnte. Als ich noch in Hamburg war, hatte ich mir ausgerechnet, wie lange ich von dem Geld leben konnte. Ich hatte angenommen, dass es ungefähr zweieinhalb Jahre sein würden. Doch bereits nach den ersten Tagen in Namibia musste ich feststellen, dass die Lebenshaltungskosten hier höher waren, als ich vermutet hatte. Also würde ich mir früher als angenommen, eine Arbeit suchen müssen. Doch daran wollte ich jetzt noch nicht denken, und zunächst einmal langsam in das Leben in Namibia eintauchen.
In der Lodge angekommen, bezog ich eine kleine Hütte. Das gesamte Gelände erstreckte sich über eine Anhöhe, auf der weit verstreut kleine Hütten standen. Die Sonne, die gerade unterging, tauchte alles in ein warmes Licht. Außer der Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte und auf der vereinzelt trockene Sträucher auf rotbraunem, sandigem Boden standen, sah man nichts.
Ich beschloss, Marlis anzurufen. Sie machte sich bestimmt schon Sorgen, denn ich hatte eigentlich versprochen, mich gleich nach der Ankunft zu melden und bislang hatte ich das noch nicht getan. Von dem Kreislaufzusammenbruch wollte ich ihr aber nichts erzählen, damit sie nicht gleich wieder mit ihren Ratschlägen und Warnungen käme.
„Helen“, rief Marlis erleichtert in den Hörer, „wie geht es dir?“
„Gut“, sagte ich und fügte hinzu: „Ich habe sehr nette Leute kennengelernt, sofort am ersten Tag, als ich in Windhoek angekommen bin. Sie haben mich eingeladen, ein paar Tage bei ihnen zu wohnen, um mich zunächst etwas zu akklimatisieren. Es tut mir leid, dass ich darüber total vergessen habe, dich anzurufen, aber es sind gleich so viele Eindrücke auf mich eingeströmt.“ Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, bereute ich, dass ich so viel erzählt hatte, denn es klang, als wollte ich etwas verbergen.
Doch Marlis hatte offenbar keinen Verdacht geschöpft, denn sie sagte: „Kein Problem, ich habe mir schon gedacht, dass du am Anfang von den Ereignissen überrollt wirst, das ist ja immer so, wenn man unterwegs ist, da denkt man erst einmal nicht mehr an Zuhause.“
Zuhause, dachte ich‚ eigentlich ist das ja jetzt hier.
„Bist du noch dran?“, fragte Marlis und sprach laut und überdeutlich in den Hörer.
„Ja“, sagte ich, „ich habe mich nur für einen Moment in meinen Gedanken verloren“, und fügte hinzu: „Du brauchst nicht so laut zu reden, ich höre dich gut.“
„Stimmt, ich dich auch. Man meint, man müsse laut sprechen, weil du so weit weg bist, aber es hört sich tatsächlich ganz nah an, so als würdest du aus Deutschland anrufen“, sagte Marlis und wechselte dann das Thema. „Lars war traurig, dass er nicht rechtzeitig am Flughafen war und er dich deshalb nur noch kurz durch die Scheibe gesehen hat. Wir waren anschließend noch zusammen zu Mittag essen, aber keine Sorge, ich habe ihm nichts von dem Baby erzählt. Er will einige Wochen in Hamburg bleiben, um dies und das zu regeln, um dann seine neue Stelle in Südafrika anzutreten. Er hat den Job tatsächlich angenommen. Das Projekt wird drei Jahre dauern und eventuell auch noch verlängert werden. Er wird also in den nächsten drei Jahren gar nicht weit weg von dir sein.“
Mein Herz fing an zu klopfen, doch bevor ich etwas antworten konnte, fügte Marlis hinzu: „Er hat mir eine Telefonnummer dagelassen, wo man ihn in Johannesburg erreichen kann, und mich gebeten, sie dir zu geben.“
Etwas nervös kramte ich in meiner Handtasche und bedeutete dann dem Mann, der hinter der Rezeption stand, dass ich etwas zu schreiben bräuchte. Er verstand, was ich wollte, und legte mir einen Block und einen Kugelschreiber hin. Marlis diktierte mir die Telefonnummer, die ich mit leicht zitternden Händen notierte. Ich fragte mich, warum meine Nerven mit mir durchgingen, war ich doch eben noch so zufrieden und entspannt gewesen. Warum brachte mich das jetzt so aus der Fassung? Ich wusste doch, dass Lars vorhatte, nach Südafrika zu gehen.
Ich versuchte, mich wieder zu beruhigen, und erzählte Marlis daher von Nahas und Pendukeni. Ich sagte ihr, dass ich die beiden am Tag meiner Ankunft in Windhoek auf dem Umzug zum Nationalfeiertag kennengelernt hätte und log ja damit auch nicht, sondern sparte lediglich ein paar Details aus.
„Ich werde einen Sohn bekommen“, sagte ich zu Marlis, „Nahas ist Arzt und hat angeboten, mich zu untersuchen, um zu gucken, ob nach dem Flug mit dem Baby alles in Ordnung ist, dabei hat er festgestellt, dass es ein Junge wird.“
„Ein Sohn, toll“, sagte Marlis, „du wirst sehen, alles wird gut.“
„Sagst du das, um mich oder um dich zu beruhigen?“, fragte ich.
„Um uns beide zu beruhigen“, sagte sie und fügte hinzu: „Ich habe dich sehr lieb.“
„Ich dich auch Marlis, es ist schön, dich als Freundin zu haben. Egal wie weit du weg bist, ich fühle mich dir immer sehr nah.“
Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile und ich erzählte Marlis von Namibia. Als wir das Gespräch beendet hatten, steckte ich den Zettel mit Lars' Telefonnummer ein und ging zurück zu meiner Hütte. Bis in die späte Nacht hinein kreisten meine Gedanken noch um das Telefonat und um Lars.
Kapitel 6
Die nächsten Tage verbrachte ich damit, mir die verschiedenen Sehenswürdigkeiten im Süden Namibias anzusehen. Jeden Tag fühlte ich mich besser, da ich mich an das Klima und das Essen gewöhnt hatte. Ich fuhr gemächlich über die Landstraßen und genoss die Reise. Es gab nicht viel Verkehr, manchmal traf man über Stunden hinweg auf kein anderes Fahrzeug. Auch Tankstellen gab es nur sehr wenige, ich hatte daher immer einen Kanister Benzin im Kofferraum, damit ich die langen Strecken zurücklegen konnte. Mein nächstes Ziel waren die großen roten Sanddünen, die an der Westküste liegen. Sie waren noch weit entfernt, aber man konnte sie am Horizont schon erahnen.
Um von einem Ort zum nächsten zu kommen, brauchte es sehr viel Zeit. Aber ich hatte es auch gar nicht eilig, ich wollte dieses Land in aller Ruhe entdecken, es Tag für Tag ein Stück näher an mich herankommen lassen, spüren, ob ich hier leben wollte. Meine Route für die Rundreise hatte ich bewusst so gewählt, dass ich zunächst in den Süden Namibias fuhr und dann von dort aus wieder gen Norden bis zur Grenze zum Nachbarstaat Angola. Am Schluss meiner Reise würde ich in Rundu ankommen. Ich wollte erst das ganze Land gesehen haben, bevor ich die Stadt Rundu erreichte. Denn nur so konnte ich beurteilen, ob ich dort bleiben wollte oder ob es mir in einer anderen Stadt oder Region von Namibia besser gefiel.
Als ich zum wiederholten Mal anhielt, um Fotos zu machen, dieses Mal von ein paar Straußenvögeln, die am Straßenrand standen, konnte ich das Auto nicht mehr starten. Der Wagen röchelte nur kurz auf, als ich den Zündschlüssel rumdrehte, dann ging nichts mehr.
Ich versuchte noch mehrmals, das Auto zu starten, aber der Motor sprang nicht an. Mir wurde heiß und kalt, was sollte ich nun tun? Ich stand mitten im Nirgendwo zwischen Keetmanshoop und Lüderitz. Hilfe suchend blickte ich mich um, weit und breit war aber niemand zu sehen, nur eine staubige Straße und weites Land. Ich nahm mein Mobiltelefon und fragte mich, ob ich Pendukeni und Nahas anrufen sollte, jedoch war ich viel zu weit von Hannuk entfernt, als dass sie mir hätten helfen können, deshalb verwarf ich den Gedanken. Ich sah auf die Uhr, es war drei Uhr nachmittags, mir blieben bis zum Einbruch der Dunkelheit zum Glück noch einige Stunden Zeit.
Ich lehnte mich an das Auto, schaute die Straße hoch und runter, konnte kilometerweit sehen, doch nirgendwo war ein anderes Auto in Sicht. Ich trat vor Ärger mehrfach gegen den Vorderreifen und beschloss dann, die Telefonnummer der Autovermietung rauszusuchen. Ich kramte im Handschuhfach nach den Papieren, und der rosa Durchschlag des Mietvertrages fiel heraus, aber die Telefonnummer der Autovermietung stand nicht darauf. Ich suchte weiter und fand schließlich eine Visitenkarte