Eine Stunde später ging der Kriegsrat nach einer Brandrede des Sultans in euphorischer Stimmung zu Ende und Kara Mustafa zog sich mit Mavrocordatos, dem Janitscharengeneral, seinem Schwager Köprülü Mustafa, der zum vierten Wesir aufgestiegen war und Wesir Ali Pascha von Rumelien, der einem Rang über ihm stand, für eine Nachlese in sein Zelt zurück. Bedauerlicherweise nicht dabei: Sein verlässlicher Freund Kara Mehmed und der umtriebige Selim, ein venezianischer Überläufer, dem Allah den Verstand und die Einfallskraft von fünf Männern gegeben hatte. Selim hatte er zum Präfekt von Wien erhoben, was er nachträglich bedauerte.
Die vier, die mit ihm saßen, hatten die Verblüffung über die Ankündigung des Sultans, hunderttausend Soldaten aus seinem Privatschatz zu bezahlen, noch nicht abgelegt. Sultan Mehmed war immer für eine Überraschung gut, dass der notorische Geizkragen aber sein Privatvermögen opferte, überstieg alle Erwartungen. Und so wurde die Frage - „glaubst du wirklich, er tut es?“ - mehrmals gestellt, ohne dass die fünf zu einer anderen Antwort als - "er wird es tun, wenn es Allahs Wille ist" - gekommen wären. Kara Mustafa hätte das zusätzliche Geld gerne für die Erneuerung der Kriegsflotte verwendet. Die alte dümpelte vermorscht in diversen Häfen und konnte einer modernen christlichen Flotte nicht Paroli bieten. Die Venezianer verhielten sich feindselig, obwohl ihnen die Rückgabe einiger ägäischer Inseln im Austausch gegen eine Handvoll Kriegs- und Transportschiffe in Aussicht gestellt worden war. Schiffe brauchte das Reich dringender als Brot.
„Nun, Bekir Mustafa, was weißt du zu sagen?" wandte Kara Mustafa sich an den Janitscharengeneral.
"Dass wir auf die Bündnistreue der Franzosen nicht bauen dürfen, weiser Wesir, dass wir aber andererseits mit zweihunderttausend Soldaten die Franzosen gar nicht brauchen, um uns den Westen zu unterwerfen."
Der Großwesir nickte nachdenklich. "Und wie sollen wir vorgehen?“
„Als erstes müssen die Kaiserlichen aus Raab und Komorn vertrieben werden! Das wird hart, aber fünfzigtausend sollten reichen. Das Hauptheer kann gegen die Länder vorgehen, die bei den Deutschen Bavaria (Bayern)und Bohemia (Böhmen) heißen.“
„Und an Venedig denkst du nicht?“
"Allah wird unsren Verstand leiten, sobald Raab und Komorn erobert sind. Das sind zwei harte Brocken."
„Sagtest du schon. Was meinst du, Ali Pascha?“
"Venedig liegt abseits des deutschen Kriegsschauplatzes! Mache Wien zum Ausgangspunkt deiner Feldzüge!“ sagte der vierte Wesir, „und tue es rasch! Bring alles was du für die Feldzüge brauchst von Belgrad die Donau aufwärts. Beginne damit, sobald der Fluss befahrbar ist."
"Gut gesprochen, Ali. Und was rätst du, Mavrocordatos? Du schaust drein, als wäre deine Mutter verstorben!"
Das Gesicht des friedliebenden und stets vorsichtigen Dolmetsch trug wie immer, wenn über Kriegspläne geredet wurde, einen sauertöpfischen Ausdruck. Seiner Meinung nach hatte das Reich seine natürlichen Ressourcen aufgebraucht und durfte nicht noch größer werden. Dass es noch existierte, verdankte es der Schwäche seiner Feinde und der Willfährigkeit seiner Vasallen, die es wie ein Moloch auszehrte, bis die sich eines Tages gemeinsam gegen ihre Peiniger erhoben! Aber wie wollte man siegestrunkenen Türken klar machen, dass die Gefahr mit jeder Eroberung stieg?
"Ich stimme dem General und dem Statthalter von Rumelien zu, weiser Wesir. Erst müssen die Festungen des Kaisers östlich von Wien fallen, bevor du dich in neue Abenteuer stürzt! Und habe Acht, dass sich die Kaiserlichen Wien nicht zurückholen, bevor der Winter zu Ende ist."
"Wie ein ängstliches Weib redest du, Grieche!" rügte der Wesir. " Es ist unsinnig eine Stadt im Winter zu belagern!“
Mavrocordatos zuckte mit den Schultern. "Vom Krieg verstehst du mehr als ich, siegreicher Wesir. Mir kam nur der Gedanke, dass es gerade deswegen versucht werden könnte, weil es unmöglich erscheint. Credo quia absurdum est.“
„Weißt du keinen besseren Rat, Mavros? Soll ich dem Kaiser Wien zurückgeben und ihn um Vergebung bitten?“
Mavrocordatos ignorierte den Sarkasmus. „Jedenfalls würde ich keinen Piaster auf die Franzosen setzen, weiser Wesir. König und Kaiser sind Glaubensbrüder. Und über ihre Mütter verwandt. Eine Aussöhnung ist nicht ausgeschlossen und dann stehen einhundert und fünfzigtausend französische Soldaten gegen uns.“
„Einhundert und fünfzigtausend“ sinnierte Ali Pascha. „Allah möge verhindern, dass es dazu kommt!“
„Nun lass dich nicht vom Gejammer des Griechen anstecken, Ali!“ rügte Kara Mustafa. Gehen wir davon aus, dass der Sultan sein Versprechen hält und im Sommer ein zweites Heer nachrückt. Der Sultan verlangt eine schöne reiche Stadt für sein Gold. Welche wollen wir ihm geben?“
„Prag würde ihm gefallen“ sagte Köprülü Mustafa , der wie viele andere seit Wochen die Landkarten studierte. „Die Stadt ist ein Bollwerk gegen Norden und Westen und im Vogelflug von Wien nicht weiter entfernt als Buda. Bei Bedarf können wir die Heere zusammenlegen.“
„Gut gesprochen, Schwager! Arbeite einen Plan aus! Suche nach Männern, denen Stadt und Umland vertraut sind! Aber was ist mit Venedig? Venedig ist stark zur See und schwach zu Lande. Sollen wir es nicht am Landweg angreifen?“
„Hat dir das der kleine venezianische Renegat ins Ohr geflüstert?“ fragte Bekir Mustafa. „Dieser Selim, der seine alte Heimat so hasst?“
„Die Venezianer wollen keinen Krieg“ unterbrach Mavrocordatos. „Sie würden einen hohen Tribut zahlen, wenn man sie in Ruhe lässt. Nimm ihr Geld und du ersparst dir einen Kriegszug mit ungewissem Ausgang.“
„Ich will nicht ihr Geld, ich will ihre Schiffe!“
Kara Mustafa stand auf und streckte sich wie ein Kater. „Prag oder Venedig also. Falls der Sultan Wort hält. Allah möge uns viele Siege schenken! Ihr seid entlassen!“
Krems
In Krems an der Donau erwachte am Neujahrstag im Gasthof ´Zum Pfennigfuchser` ein Mann, dessen Hass auf die Türken so groß war, dass selten ein Tag verstrich, ohne dass er über Mittel und Wege nachgedacht hätte, ihnen Schaden zuzufügen. Von dieser Obsession abgesehen, gab es nichts Auffälliges an ihm. Er führte einen gewöhnlichen deutschen Namen – Konrad von Breitenbrunn - war groß gewachsen und kräftig, ohne riesig zu wirken. Er mochte Frauen und diente dem Kaiser wie viele andere Männer auf Sold und Ehre. Im letzten Jahr war er auf der Karriereleiter zwei Sprossen nach oben gestiegen und hatte es zum Kommandeur eines Bataillons gebracht. Das Bataillon war in Wien vor die Hunde gegangen, genauer gesagt, mit Wien vor die Hunde gegangen. Nach der Explosion des Pulverturms waren sie gegen die türkischen Belagerer auf verlorenem Posten gestanden, hatten sich so gut es ging gewehrt, bis das Ende kam. Gewisse Verdienste, die der gewesene Stadtkommandant Starhemberg in seinem Offizierspatient festgehalten hatte, machten Breitenbrunn Hoffnung auf ein neues Kommando, sobald der Kaiser neue Regimenter aufstellte. Zunächst aber beschäftigte ihn an diesem Morgen die banale Frage, ob er sich eine Uhr zulegen sollte, eines dieser modischen Chronometer nämlich, die so klein waren, dass sie in den Brustbausch passten und einhundert Gulden oder mehr kosteten. Abends am Offizierstisch hatte ihn ein Major spöttisch angesehen, weil er nach der Uhrzeit fragte. Mon Dieu, ein Obrist ohne Uhr? Incroyable! Ein dummes Wort und er hätte dem blasierten Pimpf aufs Maul gehauen! Teure Uhren waren Luxus, solange die Sonne gratis vom Himmel schien. Das Gleiche galt für teure Kleider, Duftwasser, Schmuck und Perücken. Man brauchte sie nicht wirklich! Mit dieser Meinung hielt er meist hinter den Berg, weil sie den Argwohn der parfümierten Kavaliere und geistlosen Schwätzer erregt hätte. Es gab da nämlich ein diskretes Detail, das der Welt verborgen bleiben musste. Einen ´von Breitenbrunn` gab es erst, seit ihm die Brandenburger aus Gefälligkeit einen Freiherrentitel ins Offizierspatent geschrieben hatten, um ihm den Übertritt ins kaiserliche Heer möglich zu machen. Dort hatten ihn dann alle gleich als Baron angeredet und er den Irrtum nicht korrigiert.