Als ich in Regensburg das erste Mal vor ihm kniete, litt er an der türkischen Auszehrung. Die Türken hatten ihm Wien und Niederösterreich weggenommen und jeder dachte, dass es noch schlimmer kommen würde. Ihm blieb gerade bis zum Frühjahr Zeit, eine neue Allianz gegen den Erbfeind aus dem Osten zu schmieden. Seine alten Verbündeten, der Herzog von Bayern und der polnische König Sobieski, waren tot und der mächtige Ludwig XIV. betrieb eine Politik, die dem Sultan in die Hände arbeitete. Die anderen europäischen Fürsten sympathisierten mit dem Kaiser und versprachen Abhilfe, wobei die reale Hilfe oft dem von Isaac Newton eben in diesem Jahr aufgestellten Gesetz folgte, wonach die Kraft der Anziehung mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt. Die sich unmittelbar von den Türken gefährdet sahen, gaben Geld und Soldaten, die anderen gute Worte.
Der gute Kaiser hatte also allen Grund, besorgt in die Zukunft zu blicken. Bei mir verhielt es sich anders. Ich hatte die Belagerung und Eroberung Wiens überlebt und war vom Hauptmann zum Oberst aufgestiegen. Persönliches Glück bescherte mir das Wiedersehen mit meinem Zwillingsbruder, den ein grausames Schicksal zu den Janitscharen verschlagen hatte. Diese Geschehnisse und mehr habe ich in meinen Buch, ´Der Goldene Apfel der Deutschen` niedergeschrieben.
Um mich zu bilden und Dir, geneigter Leser, einen tieferen Einblick in die folgenden Geschehnisse geben zu können, bin ich zu den Stätten gereist, wo entscheidende Politik gemacht wurde. Nicht selten setzte ich mich bei meinen Nachforschungen dem Verdacht der Spionage aus. In Paris hatte ich die Ehre, drei lange Wochen im französischen Staatsgefängnis zu verbringen. Obwohl Friede ist, wagte ich mich nicht nach Konstantinopel. Bei den Türken gelte ich immer noch als Rebell der übelsten Sorte.
So war es ein Glück, dass ich Jahre zuvor einen hohen türkischen Offizier Wochen lang verhörte, der dem Divan des Großwesirs angehörte, über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte und die Kunst des klugen Erzählens beherrschte. Ismail Pascha redete wie ein Buch, um seinen Kopf zu retten. Was ich von ihm Erstaunliches erfuhr, gebe ich an Dich, geneigter Leser, in diesem Buch ebenso weiter wie die Erlebnisse meines lieben Bruders, der auf einem Schiff seinem alten Leben davon fahren wollte und nordafrikanischen Piraten in die Hände fiel.
Am Ende ein Wort zu den Türken. Sie geben vorzügliche Soldaten ab. Auch habe ich bei ihnen Ansätze zur Ritterlichkeit festgestellt, wie sie sich bei Christen nicht oft finden. Trotzdem werde ich sie immer hassen, weil sie mir Vater und Mutter umgebracht haben.
So Gott mir die Kraft gibt, wird diesem Buch noch ein drittes folgen, das den Großen Türkenkrieg zu Ende erzählt.
Gegeben im Jahr des Herrn 1705
Feldzeugmeister Konrad von Breitenbrunn.
Er las das Geschriebene durch und war zufrieden. Vor dem Fenster trieben dicke Schneeflocken und der Wind heulte im Kamin. Er stand auf und legte Scheite ins Feuer. Früher hatte er sich bei jedem Wetter draußen herumgetrieben, jetzt hockte er gern in der warmen Stube.
Leise, um die Kinder nicht anzulocken, stimmte er ein Lied an, das seine Soldaten im Winter gerne gesungen hatten.
Der Reif und auch der kalte Schnee
die tun den armen Landsknecht weh
wie soll´n sie sich ernähren?
Wenn sie die Straß nicht reiten mög´n
was soll´n sie dann verzehren?
Edirne
Ein Tag so klar, dass Sultan Mehmeds scharfe Augen die Schnee bedeckten Gipfel der Rhodopen in der Ferne ausmachen konnten. In seiner Vorstellung hauste der Winterdort oben das ganze Jahr und wartete, dass seine größte Feindin, die Sonne, ihre Kraft verlor. Dann kam er herabgestiegen und eroberte die Täler und Ebenen mit Eis und Schnee. In Ostthrakien allerdings machten die feuchten Winde vom Weißen Meer seine Waffen stumpf. Die Flüsse froren nicht und der Schnee verschwand nach einigen Tagen. Wegen dieses klimatischen Vorteils sammelten die osmanischen Sultane von alters her ihre Armeen vor Edirne, bevor sie gegen die ungläubigen Völker des Westens zogen. So hatten es Mehmed der Eroberer und Süleyman der Prächtige gehalten, und ihre Söhne und Enkel, soweit sie kriegerischer Natur waren.
Mehmed IV. hielt die Hand schützend über die Augen und musterte die Zeltstadt außerhalb der Stadtmauern. Sechzigtausend Soldaten warteten auf den Beginn des nächsten Kriegszuges gegen den deutschen Kaiser. Sie mussten sich in Geduld üben, bis der Winter Pässe und Gebirgstäler freigab.
Es war der zwölfte Tag des Monats Muharram im Jahre 1095 der Hedschra und der letzte Tag des Jahres 1683 im gregorianischen Kalender. Von der Zeitzählung der Christen besaß Sultan Mehmed nur eine vage Vorstellung, vermutlich war sie so unsinnig und verblendet wie alles, was die Gottesleugner erdachten. Sie bestritten die Existenz Allahs, des einen wahren Gottes, des Schöpfers und Herrn aller Dinge und würden in der feurigen Grube Dschahannam brennen, während die Rechtgläubigen nach ihrem Hinscheiden die Segnungen des Paradieses genossen. Wer nach dem Koran lebte, der irrte nicht, wer Allah willfahrte, erfreute sich seiner Gunst! So neuerdings er selbst. Mit Allahs Hilfe hatten seine Soldaten im letzten Jahr große Siege errungen und ihn im fünfunddreißigsten Jahr seiner Regentschaft zum Großen Sultan gemacht. Zu Mehmed dem Siegreichen!
Übermannt vom Gefühl seiner Herrlichkeit zog Sultan Mehmed eine Kinderfaust große Nachbildung der Turmbekrönung von Wiens Kathedrale aus der Tasche und drückte seine Lippen darauf. Großwesir Kara Mustafa hatte ihm das Kleinod als Glücksbringer und Symbol seines Sieges über die Ungläubigen verehrt. (Allah musste seinen grimmigen Verstand erleuchtet haben, als er es in Auftrag gab!) Freundlich blinkte ihn die runde Sonne an, während sechszackiger Stern und Mondsichel sich in matter Zurückhaltung übten, bis das Licht des Himmelsmondes auf sie fiel. ´Mondenstein` nannte Mehmed die kostbare Miniatur und kam damit dem Namen, dem die Wiener dem Original gegeben hatten – Mondschein – sehr nahe. Nach einem zweiten Kuss wanderte das Kleinod in den Brustbausch seines seidenen Mantels zurück.
Neben dem Sultan saß Großwesir Kara Mustafa zu Pferd. Männer und Pferde warfen in der frühen Morgensonne lange Schatten nach Westen. Sie waren ein höchst ungleiches Paar. Unberechenbar und sprunghaft der Sultan, beständig und pragmatisch der Mann, der das Reich für ihn mit fester Hand regierte. Gemeinsam hatten sie große Erfolge gefeiert, freundschaftlich verbunden waren sie einander nicht.
Kara Mustafa hatte dem Ritual belustigt zugesehen. Welcher erwachsene Mann schmuste ein Ding aus Metall ab? Mehmed blieb ein jämmerlicher Tropf, obwohl er im letzten Jahr an Statur gewonnen hatte. Er saß aufrecht im Sattel, seit ein persischer Arzt den Bruchsack zurück gedrückt hatte, seine Augen rollten nicht mehr wie die eines Dschinn, er gab sich leutselig, bestieg nur mehr seine Hauptfrauen und mischte sich neuerdings in die Staatsgeschäfte ein. Kara Mustafa, der seinen Werdegang vom ängstlichen Kindersultan zum tollpatschigen Jüngling, gleichgültigen Herrscher, notorischen Geizhals und Wüstling und schließlich zum Eroberer mitgemacht hatte, beeindruckte das nicht. Mehmed war derselbe verderbte Mann in einem neuen Kleid.
„Mustafa, Mustafa Pascha!“ Mehmed ließ seine Schimmelstute tänzeln. "Fünf Beutel Gold, dass ich als Erster bei den Zelten bin!"
Ohne auf Antwort zu warten, sprengte der Sultan lachend davon. Ein fester Druck in die Flanken und Kara Mustafas großer Rappe, der den Namen des griechischen Gottes der Winde trug, nahm mit einem gewaltigen Satz die Verfolgung auf. Die Köpfe über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, fegten sie über die große Pferdeweide und mitten durch den Paradeplatz, wo sich Soldaten für die Musterung sammelten. Die für den Krieg abgerichteten Pferde scheuten nicht vor den zur Seite springenden Soldaten. Als die Zeltburg nur mehr drei Steinwürfe weit entfernt war, rammte Mehmeds Schimmel einen Mann zur Seite. Nun liefen die Pferde Kopf an Kopf, bis der Sultan in einer letzten Anstrengung sein Pferd zum Sprung zwang und mit einer halben Länge siegte.
"Du schuldest mir fünf Beutel Gold!" rief er