Hitzemond. Oliver Fehn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Fehn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847606789
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ab, Schmuddelbuddel. Wenn wir erst groß sind, muss keiner von uns beiden mehr allein sein.“

      Wenn sie unterwegs waren, stellten wir oft alles auf den Kopf. Beschossen uns mit Seifenresten und Wasserbomben und telefonierten stundenlang nach Zuckerwatteland. Unter Muttis Nähmaschine bauten wir uns einen Dschungel, mit Lianen aus Nähgarn und Sümpfen aus Schmieröl. Ich war Mogli, und du warst Baghira der Panther. Unseren Feinden, den Kissenmonstern, ließen wir keine Chance: Wir stachen mit Messern auf sie ein, bis ihre Seelen als Bettfedern zur Zimmerdecke schwebten. Einmal streiftest du mit dem Schwanz eine teure chinesische Vase, und sie kippte vom Schrank und zerbrach. Du konntest wirklich nichts dafür. Als Vati und Mutti kamen, gaben sie mir die Schuld. Brüllten herum und brummten mir eine Woche Hausarrest auf. Aber was soll’s, Schmuddel, ich wusste ja, dass ich das alles nur für dich tat.

      „Mit dem Jungen muss etwas geschehen“, sagte Vati, und ich sah mich schon in einem Labor liegen, wo fünfzehn Ärzte an meinem Gehirn herumschnippelten. „Er hat wieder einen seiner Tobsuchtsanfälle bekommen. Sieh dir bloß mal sein Zimmer an.“

      „Er braucht einen Freund“, sagte Mutti. „Er ist der einzige aus seiner Klasse, der immerzu allein ist.“

      Du bekamst es zufällig mit, Schmuddel, und ich hörte dich hinterm Sofa leise kichern.

      Aber sie ließen nicht locker. Einen ganzen Sommer lang, beim Frühstück schon, oder wenn ich zu lange auf der Toilette saß oder abends nicht ins Bett wollte, immer hörte ich nur dasselbe: Einen Freund, einen Freund, einen Freund. Irgendwann platzte mir der Kragen, und ich beschloss, ihnen alles zu sagen. Falls sie dich rauswerfen würden, okay, kam ich eben mit.

      „Hört endlich auf mit eurem Freund“, sagte ich. „Ich habe einen Freund. Wenn ihr’s nicht glauben wollt, kommt mit auf mein Zimmer, dann stelle ich ihn euch vor.“

      Sie tauschten spöttische Blicke, als würden sie so etwas nicht zum ersten Mal erleben. Dann führte ich sie hinauf, wo du dich gerade auf der Fensterbank sonntest und ein altes Lied aus Zuckerwatteland vor dich hinsummtest.

      „Hier“, sagte ich. „Das ist mein Freund Schmuddelbuddel.“

      Du blicktest hoch, als du deinen Namen hörtest, und nicktest ihnen freundlich zu. Sie aber machten lange Gesichter.

      „Will er uns für blöd verkaufen?“ fragte Mutti. „Hier ist doch überhaupt niemand.“

      Ich hatte es immer befürchtet, Schmuddelbuddel: Sie wollten dich nicht wahrhaben. Sie taten einfach so, als gäbe es dich nicht.

      „Macht doch eure Augen auf“, rief ich ärgerlich. „Und sagt wenigstens Hallo zu Schmuddelbuddel.“

      „Mit dem Jungen muss etwas geschehen“, sagte Vati, als sie wieder hinuntergingen.

      In der Schule hatte ich oft Sehnsucht nach dir. Vor allem wenn sie mich wieder einmal mit ihren hinterhältigen Fragen quälten: nach dem Äquator, den Primzahlen, der japanischen Hauptstadt. Da wünschte ich mir oft, du wärst mein Banknachbar und hättest geflüstert: Nimm’s nicht so schwer. Am Äquator ist immer Sommer; Primzahlen wissen nicht mal selbst, dass sie welche sind; und Japanerinnen haben bezaubernde Augen. Mehr musst du nicht wissen.

      Stattdessen verknotete ich mein Haar und kratzte mir Pickel aus dem Gesicht. Das war verboten, auch wenn es nirgendwo geschrieben stand. Im Zeugnis vermerkten sie, ich sei ein schwieriger Junge. Was mir irgendwie schmeichelte. Nur die zu Hause konnten sich wieder einmal gar nicht dafür erwärmen.

      Sie rieten mir, Nachhilfestunden bei einem Schulfreund zu nehmen, und ich antwortete: „Der einzige Freund, den ich habe, war nie auf einer Schule. Trotzdem weiß er viel mehr als ihr alle.“ Sie wussten sofort, von wem die Rede war, und kürzten mir das Taschengeld. Wir werden ihm seinen eingebildeten Freund schon austreiben, sagte mein Vater.

      Eigentlich gar nicht so schlecht, Schmuddel, dass du Luft für sie warst. Manchmal tat ich einfach so, als wärst du nicht da und legte das aufgeschlagene Mathebuch vor mich auf den Tisch. In Wirklichkeit hocktest du auf meinem Schoß, und wir spielten Wünschelbrunnen. Jeder warf in Gedanken eine Münze ins Wasser und flüsterte der Fee, die dort unten wohnte, seinen Wunsch zu. Ich wünschte mir immer dasselbe: dass du für immer hier bleiben würdest, und dass sie dich nie hinaus in den Regen jagten, der den Tod für dich bedeutet hätte. Und du wünschtest dir immer, Vati und Mutti würden sterben. Weil wir dann ein Haus für uns allein hätten und alles tun könnten, was uns Spaß macht, erklärtest du, als ich zunächst erschrak. Und ich sah, dass es gar keine so dumme Idee war.

      Dann kamen jene Briefe. Von den Lehrern, die darin alles aufzählten, was sie an mir störte. Wirkt zerstreut, hieß es da. Erschafft sich Fantasiewelten, ist unempfänglich für Kritik. So ähnlich jedenfalls. Ab sofort musste ich meine Hausaufgaben unter Vatis Aufsicht machen. Wenn er mich bei einem Fehler ertappte, schlug er mir mit dem Lineal auf die Finger. Keine Angst, Schmuddel, es tat nicht besonders weh. Erst später, wenn ich versuchte, das getrocknete Blut mit heißem Wasser runterzuwaschen, war es wie tausend Nadeln. Er schlug mich fast jeden Tag. Und du fletschtest die Zähne. Einmal, als er wieder auf meinen Handrücken einschlug und nicht aufhören wollte, verlorst du die Nerven und sprangst ihm ins Kreuz.

      Er tat, als würde er es gar nicht bemerken.

      Irgendwann war Mona da. Sie war die Klassenbeste und nicht mal eine besondere Streberin, weil ihr alles zuflog, wie sie sagten. Jeden Nachmittag kam sie für zwei Stunden, um mir alles über Brüche, Dezimalzahlen und Kommastellen beizubringen. Am Anfang legte sie sich wirklich ins Zeug, und auch ich gab mir Mühe, wenn schon nicht für die Schule, dann doch wenigstens für sie. Sie erklärte und erklärte, und ich nickte und nickte. Doch schon bald wurde alles in meinem Kopf zum Wortsalat: Ich verwechselte Quader und Äquator, Abszisse und Abszess. Und nickte immer zaghafter, zuletzt in die falsche Richtung. Sie durchschaute mich sofort.

      „Wenn du keine Lust hast, lassen wir es doch einfach bleiben.“ Sie nahm ihre Stricktasche mit den Heften und stand auf, aber ich hielt sie am Arm fest.

      „Wir können doch auch was anderes machen als lernen. Ich weiß, dass du mir helfen willst. Aber das Zeug will einfach nicht in meinen Kopf.“

      Selbst wenn sie ganz normal nachdachte, sah sie aus, als würde sie eine Matheaufgabe lösen. „Mir ist es gleich.“

      „Mir auch. Wenn die anderen sich nach mir erkundigen, sag einfach, ich sei ein hoffnungsloser Fall.“

      Mona war einverstanden. Sie kam auch in den nächsten Tagen, und wir warfen uns jetzt einfach aufs Sofa und quatschten dem Teufel das Ohr weg. Sie war nicht nur in Mathe ein Genie. Wir redeten über Hunde, das Weltall, Superman und ihre Nabelbruchoperation. Sie zeigte mir sogar die Narbe. Im Gegensatz zu meinem Nabel war ihrer ein tiefes, dunkles Loch mit vielen Flusen drin.

      „Der sieht ja bescheuert aus“, sagte ich, aber damit sie nicht beleidigt war, beugte ich mich im gleichen Moment zu ihrem Nabel runter und drückte ihr einen Kuss drauf.

      „Huch“, sagte sie.

      Ich sah zu Boden. „Bist du jetzt sauer auf mich?“

      Sie musterte ihren Bauch, auf dem meine Lippen einen mattglänzenden Stempel hinterlassen hatten. „Es hat gekitzelt.“ Sie lachte und schüttelte sich, als würde ihr eine Maus über den Rücken krabbeln. „Hast du schon mal ein Mädchen auf den Mund geküsst?“

      Als sie eine Stunde später ging, hatte ich. Und von nun an freute ich mich richtig auf ihre Besuche. Vorsichtshalber lag natürlich immer ein Buch vor uns, oder ein paar vollgeschriebene Blätter aus unseren Mathetagen. Die waren lang vorbei, und es kam der April, und die Bäume rochen nach Mandeln, wenn wir uns heimlich in den Stadtpark schlichen, um Enten zu füttern. Die Omas auf den Bänken lächelten uns zu, als würde unser Anblick – zwei Kinder, die Hand in Hand spazieren gingen – ihnen das Herz gleichzeitig öffnen und zerreißen. Süße Tage waren das.

      Meine Noten wurden davon natürlich nicht besser. Nach einem miesen Zwischenzeugnis räumten sie mir noch ein Vierteljahr Bewährungszeit ein, aber es änderte sich nichts. Und im Mai geschah es, dass Mona ihre erste