Hitzemond. Oliver Fehn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Fehn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847606789
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griff, spürte sie, dass er zitterte.

      „Sie kann mal wieder nicht schlafen“, murmelte er. „Dann steht sie auf und singt. Und sucht nach dem, den sie verloren hat. Sie hat mir nie von ihm erzählt, aber wahrscheinlich gab es eine Zeit, in der die beiden täglich Liebe machten.“

      „Wer bist du eigentlich?“ fragte sie, als sie durch menschenleere Gassen liefen. Sie gingen jetzt Hand in Hand, aber sie wusste nicht, ob sie das wollte.

      „Ich bin Mooney“, sagte er. „Der Mann im Mond. Aber ich war immer ein guter Mann im Mond. Ich habe mich nie mit der Eisprinzessin angelegt.“

      Sie nickte, als erzähle er ihr von gemeinsamen Bekannten. Sobald sie an einer Sitzbank vorbeikamen, spürte sie ein Zucken in seiner Hand. Sie antwortete mit einem Ruck in die Gegenrichtung, wie bei Hunden, die man leinenführig macht.

      „Die Eisprinzessin“, wiederholte sie. „Ist das die Frau, die wir singen hörten?“

      „Nein“, antwortete er ungeduldig. „Die Eisprinzessin ist die, die uns die Zuckerperlen gibt.“

      „Eine gute Prinzessin also?“

      Er schüttelte energisch den Kopf. „Wenn sie gut wäre, hätten wir nicht aus ihrem Palast fliehen müssen.“

      Sie ertappte sich dabei, seine Finger zu streicheln. Er streichelte zurück. Ihre Hände machten Liebe.

      „Und die Frau, die gesungen hat?“

      „Hat tote Augen. Starrt und starrt.“ Als seine Finger sich in vertraulichere Regionen vorwagten, riss sie sich los. Mooney nickte, als würden alle Dinge im Leben so enden.

      Er deutete auf ein Bushäuschen am Ende der Straße, in dem ein schummriges Lämpchen brannte. „Verstecken wir uns dort? Bauen wir uns ein Nest?“

      Sie lachte. „Lauf schon.“

      Sie rannten los, und es war, als würden sie im Regen fliegen, dann stolperte sie über eins von Mooneys langen Beinen, stürzte und zog ihn mit, und sie kugelten über die Straße und lachten, und es war wie Liebe machen, nur ohne Liebe.

      „Oh.“ Sie deutete auf die Straße, lachte und hielt sich an seiner Schulter fest. „Ich hab meine ganzen Papiertaschentücher ausgesät.“

      Er winkte ab. „Die holt sich der Regen.“

      Im Bushäuschen hoffte sie, dass Mooney ihre Kindereien nicht als Einladung verstanden hatte. Als sie sich auf die fleckenübersäte Bank setzten, vor der Eispapier und Zigarettenkippen im Schmutz klebten, presste er sie an sich. Sein Atem in ihrem Gesicht war kühl wie der Mond.

      „Hörst du? Jetzt singt sie wieder. Was tun wir, wenn sie uns hier entdeckt?“

      Sie spähten durch die kleine Türöffnung auf die andere Straßenseite, wo an einer Fassade rosa und grüne Lämpchen sich zu dem Schriftzug Bar Amor formten. Die Fenster waren gekippt, sie hörten Dean Martin, wie er Everybody Loves Somebody lallte, dann klirrten Gläser. Die Bar Amor hatte noch geöffnet.

      Der Gesang war jetzt nur noch wenige Schritte vom Bushäuschen entfernt. Sie eilten über die Straße, steuerten die Eingangstür an, und der Mann im Mond versteckte sich hinter Judy.

      „Erzähl mir deine Geschichte“, sagte er, als sie an einem der kleinen Marmortische saßen und ein wortkarger Wirt ihnen ihre Getränke servierte: Rotwein für sie, und einen Mondschein-Cocktail für Mooney. Er lachte und rührte das indigofarbene Getränk mit dem Finger um. Dann versuchte er, dasselbe mit Judys Wein zu tun, aber sie gab ihm einen Klaps auf die Hand.

      Außer ihnen war niemand hier. Im fahlen Licht der Kerze auf dem Tisch betrachtete sie sein Gesicht zum ersten Mal genauer. Ein Teenager, mit Flaum auf der Oberlippe. Rosige Wangen. Und breite, durstige Lippen, die ihn ein wenig entstellten. Als er lächelte, sah sie seine Kinderzunge.

      „Was für eine Geschichte?“ flüsterte sie. Hinter dem Tresen stand der wortkarge Wirt und starrte sie an.

      Er zuckte die Achseln. „Jeder hat eine Geschichte. Ich könnte dir zum Beispiel erzählen, warum ich im Eispalast gelandet bin. Willst du es wissen?“

      Sie trommelte im Takt zu Dean Martin, der sein Lied bereits zum dritten Mal sang. Sobald die Platte zu Ende war, warf der Wirt eine neue Münze in die Jukebox.

      „Du wolltest Liebe machen“, sagte sie. „und jemand anderes wollte es nicht.“

      Seine Augen verwandelten sich in kleine Schlitze. „Du bist ziemlich schlau.“ Unter dem Tisch berührten sich ihre Knie.

      „Dann bist eben du dran“, sagte er.

      Sie seufzte. „Es gibt viele Geschichten. Welche willst du hören?“

      „Die von der Kälte. Von der Welt, die immer kälter wird. Davon handeln die meisten Geschichten.“

      Sie trank von ihrem Wein, der einen Hitzestoß durch ihre Venen jagte. „Du hast Recht. Es ist kalt geworden auf diesem Planeten. Als wäre immer Winter. Ich hatte eine Schwester, die beschloss, sich für immer in ihr kleines, überheiztes Zimmer zurückzuziehen. Auch im Sommer knisterte dort immer der Ofen. Zuletzt ließ sie niemanden mehr zu sich. Seit jenem schwarzen Tag. Dem schwärzesten in meinem Leben.“

      Er nickte, als wäre er dabei gewesen. „Es gibt solche Tage. Da gefriert einem das Blut in den Adern. Meine Schäferhündin ist an Darmkrebs gestorben, als ich noch klein war. Sie hat alles vollgekackt: ihre Decke, mein Bett, jeden Teppich. Dann ist sie gestorben. Ich habe nicht geweint. Aber wenn ich irgendwo am Weg Hundekacke sehe, werde ich traurig. Dann friere ich und muss über den Tod nachdenken.“

      Sie wischte ihm einen hartnäckigen Regentropfen von der Nase und lächelte. Vielleicht war er ja ein Engel, der fremde Junge, der kackende Hunde liebte und keine Tränen mehr hatte.

      „In meiner Geschichte spielt auch ein Hund mit“, sagte sie. „Aber nur in einer Nebenrolle. Die Hauptrolle in meiner Geschichte spielt ein Elefant.“

      Mit diesem Elefanten hatte alles angefangen. Hütchen hatte Melissa ihn getauft, und sie trug das Stofftier die ganze Zeit mit sich herum, auch in die Kirche und jene rätselhafte Schule am Stadtrand, von der Judy bald glaubte, sie sei verflucht: eine Schule für Kinder wie Melissa, die mit Schneeflocken sprachen und Briefe an Engel schrieben. Die nicht blöd sein konnten, weil sie – das betonte ihre Mutter oft – wunderbar Geige spielten und sich komplizierte Notenfolgen einprägen konnten. Die aber die Zähne fletschten und ihre Finger zu Krallen bogen, wenn man sie mit rosa Fliedersträußen fotografierte, in einem weißen Kleid, das aussah wie ein Totenhemd.

      Hütchen.

      Judy sollte ihn in Pflege nehmen, als Melissa für ein paar Tage mit ihrer Schulklasse in die Berge fuhr. „Du musst ihn bei dir schlafen lassen“, sagte sie. „Er war noch nie allein. Und du musst die Heizung in deinem Zimmer einschalten, auf Höchststufe.“ Es war August, und auf den Straßen schmolz der Teer. Judy nickte nur.

      „Vergiss es auf keinen Fall“, ermahnte Melissa sie am nächsten Tag, bevor sie in den Bus stieg und ohne Tränen Richtung Süden fuhr. „Schlimm genug, dass er an seinem vierzigsten Geburtstag allein sein muss.“

      Hütchens Geburtstag wurde jedes Jahr groß gefeiert. Mit Bananen, Erdnüssen und Bonbons, die Melissa zum Schluss alle selbst verspeiste. Den Elefanten hatte ihr Cousin ihr vor fünf Jahren auf dem Volksfest geschossen. An jenem Tag war Hütchen zur Welt gekommen, und nun wurde er laut Melissa jedes Jahr zehn Jahre älter, so rechne man das bei Elefanten. Als Judy nach Hause kam, lag ein Zettel mit rosa Schmierschrift auf ihrem Bett: Deng an meinen Ellefanten.

      Doch nicht eine Nacht lang war Judy gehorsam. Sie verschmachtete fast in ihrem Bett, zerwühlte die nassgeschwitzte Decke und zog sich schließlich nackt aus. Hütchen lag mit ausgestrecktem Rüssel neben ihr und grinste.

      Als die Sonne aufging, hatte sie die Nase voll. Sie packte den Elefanten bei den großen Ohren und begann ihn zu schütteln: „Okay, mein Junge. Grins du ruhig. Du erträgst keine Kälte, und ich ertrage