„Es existiert noch“, sagte Kitty. „Ist aber ziemlich verfallen. Und der Zirkus kommt nur noch selten hierher. War wohl ein Brummi.“
Judy freute sich über die natürliche Erklärung. „Stimmt. Wenn Brummis bremsen, klingt das manchmal sehr ... wie sagt man, elefantös?“
„Elefantastisch.“
„Genau, elefantastisch.“ Sie glucksten und tranken aus. Allmählich gewann die feuchte Nachtluft im Kampf gegen Tabakschwaden und schalem Biergeruch die Oberhand. Der Kellner trug die letzten Gläser in die Küche.
„Soll ich dich nach Hause begleiten?“, fragte Judy an der Garderobe, wo ihre Mäntel wie zwei Verbrecher an einer Galgenstätte baumelten. Sie prüfte, ob der Zimmerschlüssel mit dem klobigen Anhänger noch in ihrer Tasche steckte und fand ihn unter einem Wust von Taschentüchern.
„Ich schaff's allein, sind doch nur ein paar Schritte“, antwortete Kitty. „Ist mir übrigens immer noch ein Rätsel, wieso du kein Taxi nimmst.“
„Weil ich träumen will, Dickerchen“, sagte Judy. „Wann krieg ich schon mal was von meiner alten Stadt zu sehen?“
Sie sog die süße Nachtluft ein, als könne sie so die alten Zeiten zurückholen, die Tage mit Kitty, dem Wind und den Geheimnissen. Sie war längst zur Großstadtbewohnerin geworden und hätte es hier nicht mehr ertragen. Einmal im Jahr aber die große Party und alte Freunde wiedersehen, das musste sein. Es bewahrte sie davor, stumpf zu werden und zu vergessen.
Kitty umschlang sie mit ihren fleischigen Armen. „Mach's gut, großes Mädchen. Arriba, Señor.“
In dem roten Haus, nur ein paar Schritte entfernt vom Brauereigebäude, hatten sie damals gewohnt: sie, ihre Eltern und Melissa. Dann starb Judys Mutter, und die Gemeinde erwarb das Haus; seitdem stand es ungenutzt.
Sie presste die Nase gegen das Fenster, hinter dem einst ihr Zimmer gelegen hatte. Ein kahler Raum; auf dem Boden Betonsäcke und Maurerutensilien. Dann lief sie ein paar Schritte weiter und spähte in Melissas Zimmer. Dasselbe. An die Fensterscheibe hatte jemand einen selbstklebenden Schmetterling gedrückt, auf dessen Flügeln All You Need Is Love stand.
Sie ging zur Haustür und drückte die Klinke nieder. Verschlossen. In einem Horrorfilm wäre das anders gewesen: Sie wäre eingetreten und hätte Schritte im Treppenhaus gehört, und ihre tote Mutter hätte ihr Kaffee und Kuchen gebracht, als hätte sie all die Jahre über nur gewartet. Mach’s gut, liebes altes Haus, flüsterte sie, ehe sie weiterging.
Auch das Brauereigebäude, das an Sommertagen salzigen Trebergeruch verströmt hatte, barg eine wichtige Erinnerung. Über eine Treppe an der Seitenfront gelangte man über einen unterirdischen Korridor zu den Kellern. Dort hatte man sich wunderbar verstecken können: vor der Weißen Bande (ein paar Jungs, die mit Eisbärenmasken Jagd auf Nachbarmädchen machten, um ihren Puppen die Augen auszustechen), vor dem Buckligen aus dem Nachbarhaus, dem niemand begegnen wollte, weil er bucklig war, und einmal auch vor einem Pferd, das aus einem Schlachttransporter gesprungen und panisch durch die Straßen galoppiert war.
Nur Kitty, Melissa und sie hatten das Versteck gekannt. Einmal war sie einen ganzen Tag lang nicht mehr hervorgekommen, und Kitty hatte ihr am Abend Kekse und Limo gebracht, als Überlebensration. Dass die Brauerei an einem Ort stand, wo man in alten Zeiten Verbrecher hingerichtet hatte, machte das Spiel natürlich besonders gruslig. Zumindest für Judy und Kitty. Melissa nahm es eher mit Gleichmut hin.
Während Regentropfen von ihrem Kopftuch abprallten wie Gewehrkugeln, dachte sie an ihre Schwester. Ob sie unruhig wurde, wenn draußen der Wind geigte? Ob die Pfleger ihr Medikamente spritzten oder ihr ein Radio in die Zelle stellten, damit sie Ruhe gab?
Beim Überqueren der Flussbrücke sah sie hinüber zu dem großen Gebäude mit den vielen beleuchteten Fenstern. Ihre Schwester hatte im fünften Stockwerk gewohnt, hinter dem dritten Fenster von rechts, doch das war Jahre her, und vermutlich hatte man sie längst in eine andere Zelle umquartiert. Judy wusste es nicht, weil sie Melissa nie besuchte.
Ein einziges Mal war sie dort gewesen, vor mehr als zwanzig Jahren, um sie zum Geburtstag zu überraschen. Mit einem Ständchen auf der alten Stradivari, Melissas einzigem Vermächtnis. Sie hatte sich ein heiteres Stück ausgesucht, was von Mozart, und monatelang geübt, bis ihr die Fingerkuppen bluteten. Auf Melissas Ohren jedoch schien es nicht harmonischer zu wirken als das Gejaule von Hunden.
„Was ist mit Hütchen?“ fragte sie nach der ersten Strophe und starrte ihre Schwester durch stecknadelgroße Pupillen an. „Hast du Hütchen schon vergessen?“
Judy ließ sich nicht verunsichern und spielte auch die zweite Strophe. Es war Frühling; Knospen sprossen aus den Bäumen, und Kinder liefen barfuß, während sie hier spielte, mit rotem Kopf, und Melissa auf ihre Anstaltsschuhe starrte, die Lippen zusammengepresst, die Finger gekrümmt, eine Missgeburt hinter Glas.
„Ich hab geträumt, du bringst Hütchen mit, und Hütchen hat sein Totenhemd nicht mehr getragen, und alles war nur ein böser Spuk“, sagte sie.
Dann war Judy gegangen, weinend, um die verhexte Geige für immer auf den Dachboden zu verbannen. Ein Pfleger hatte sie zur Tür begleitet.
„Es steht nicht gut um sie. Sobald sie träumt, fängt sie an zu frieren. Dann läuft sie barfuß durch den Schnee, um nach Hütchen zu suchen. Seien Sie nicht traurig. Sie haben sich alle Mühe gegeben.“
Eine Hand griff nach ihrer, als sie an der Brücke stand und sich das Treiben in der Anstalt vorstellte. Seltsamerweise erschrak sie nicht. Sie spürte kurze, weiche Finger, wie die eines Kindes; die Nägel abgekaut.
„Willst du mit mir Liebe machen?“ fragte der Junge.
Als sie sich zu ihm umdrehte, starrte er zu Boden und zog die Schultern hoch. Am Kragen des roten Flanellhemdes, das er auf der nackten Haut trug, baumelte ein Preisschild, auf seiner spärlich behaarten Brust sah sie Gänsehaut. Er roch wie feuchte Lumpen.
„Mir ist kalt im Regen. Wollen wir Liebe machen?“
Sie zog eine kleine Nagelschere aus ihrer Handtasche, trennte das Preisschild ab, und der Wind nahm es mit. „Jetzt bist du viel schicker. Woher hast du denn dieses Hemd?“
Er wich einen Schritt zurück und klammerte sich an einen Laternenpfahl. „Die anderen haben es für mich ausgesucht. Mich haben sie nicht mit ins Geschäft gelassen.“
„Welche anderen?“ fragte Judy.
„Die aus dem Eispalast. Dort haben wir alle gewohnt, bis heute Morgen.“
Sie strich ihm über den Nacken. „Ich kann keine Liebe mit dir machen. Ich habe einen Mann. Einen sehr zornigen Mann. Er würde dich schlagen, wenn er es herausbekäme.“
Der Junge zog die Mundwinkel herab. „Ich will nicht, dass einer mich schlägt.“ Nach einer Weile blitzten seine Augen. „Aber wir könnten es heimlich tun.“
Sie deutete mit dem Finger auf das Anstaltsgebäude. Hinter Melissas früherem Fenster huschten Schatten auf und ab. „Dort drüben wohnt meine Schwester“, sagte sie. „Dort leben die Menschen hinter Glasscheiben.“
Er nickte lange und vergaß vielleicht, worüber. „Kaufst du mir eine warme Jacke?“
„Ja, aber erst morgen früh. Jetzt sind alle Läden geschlossen.“
Er lächelte, als hätte sie ihm ein süßes Geheimnis verraten. Während sie nebeneinander herliefen, starrte er auf ihre Beine. Es war nicht das Starren von Männern, die nur auf den richtigen Moment warten. Er schien zu wissen, was auf keinen Fall geschehen durfte.
In diesem Moment hörten sie den Gesang zum ersten Mal.
Er kam aus den Flussniederungen, wo keine Lichter brannten, kam näher und entfernte sich. Eine trällernde Opernstimme. Sie sah hinab, um die fremde Sängerin zu erspähen, sah aber nichts als Schwärze.
„Klingt wie aus einer Zauberoper“ sagte sie. „Wir sind nicht allein.“