Oliver Fehn
Hitzemond
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 3 – Vergessen … wie die Rosen
Kapitel 4 – Die Herzen treffen sich am Broadway
Kapitel 8 – Es brennt kein Licht auf Manderley
Kapitel 12 – Der schwarze Vorhang
Vorwort: Nur ganz kurz …
Wir alle werfen einen Schatten, der je nach psychischer Tageszeit mal länger ist, mal kürzer. Wir sind nicht von Natur auf gut, so wie einige Spinner uns das glauben machen wollen. Doch unsere wirklichen Ängste haben nichts zu tun mit Dämonen, Phantomen, Vampiren und Geistern, sondern mit Menschen. Zu Recht. Die Abgründe unserer eigenen Seele (und die der anderen) sind es, vor denen wir wirklich auf der Hut sein müssen; denn sie sind unberechenbar. Die faszinierendsten Gestalten der Weltliteratur – Elektra, Ophelia, Phaedra – sind diejenigen, die unter den Bann ihrer eigenen Schatten gerieten, bis sie selbst Schatten wurden und in Schattenwelten lebten. Ihre armen Opfer (die sie manchmal auch selbst waren) hatten nichts zu lachen; sie bekamen es ganz aus der Nähe zu sehen, das Gesicht, das in unseren Albträumen meist nur aufschimmert.
Um das Schattenhafte, um die Dinge, die bei Nacht lebendig werden, geht es auch in den 12 Geschichten in dieser Sammlung. Sie sind über Jahre hinweg entstanden, die älteste davon („Nachtgesang“) schrieb ich, als ich noch ein Teenager war, die neueste („Der schwarze Vorhang“) kurz vor Herausgabe dieses Buchs.
Lesen Sie das Buch nicht, wenn Sie soeben ein seelisches Tief durchlaufen oder sich allgemein leicht ängstigen.
Ansonsten wünsche ich Ihnen viel Spaß!
Münchberg, Ende Juli 2013
Oliver Fehn
Kapitel 1 – Nachtgesang
Die erste Kurzgeschichte, die ich schrieb; ich war noch nicht mal zwanzig. Eine jener Geschichten, von denen man Jahre später sagt: „Wenn ich sie damals nicht geschrieben hätte, wäre sie wohl nie geschrieben worden.“
Nachtgesang
„Willst du wirklich kein Taxi nehmen?“, fragte Kitty. „Um diese Uhrzeit ist die Stadt wie ausgestorben.“
Vor der Tür heulten Motoren, und Autos hupten ihr Abschiedskonzert. Sie standen am Fenster, die halbleeren Gläser in der Hand, und winkten den letzten Gästen nach.
„Keine Sorge, Dickerchen“, sagte Judy. „Seit vorhin bin ich doch vierzig. Ein richtig großes Mädchen.“
„Ein altes Mütterchen, meintest du wohl. Wie weit ist es bis zur Pension?“
„Nicht mal eine halbe Stunde.“
Als der Kellner vorbeihuschte, um die Fenster zu öffnen, schielten sie auf seinen Hintern und schubsten sich an – zum hundertsten Mal an jenem Abend. Die kühle Luft tat gut. Im Park gegenüber flackerten Laternen, und über die Straße wehten Müll und alte Zeitungsblätter. Judy zog ein Tablettenröhrchen aus ihrer Handtasche.
„Was für die Seele?“ fragte Kitty.
„Für den Magen. Vertrage nichts Kaltes mehr. Ted sagte vorhin, wir könnten eigentlich in den jungen Tag hineinfeiern. Aber glaub mir, ich wäre gestorben.“
Sie spülte zwei Tabletten mit Wein runter und rülpste lautlos. „Hörst du das?“ fragte sie, und Kitty nickte. „Der Wind flüstert. So haben wir als Kinder immer gesagt.“
„Du bringst was durcheinander.“ Kitty klappte mit den plumpen Fingern ihre Ohrmuscheln nach vorn. „Der Regen ist es, der flüstert. Der Wind geigt.“
Sie lauschten, und es war ein Flüstern und Geigen da draußen. Dann lief eine Gruppe Jugendlicher vorbei, die das Konzert mit ihrem Geplärr übertönten. Einer starrte durchs offene Fenster und rief „Oh, eine Peepshow.“ Judy grinste nervös. Kitty sah wieder auf die Uhr.
„Ich werd verrückt.“ Judy kicherte und warf den Kopf verspielt an Kittys Schulter. „Du trägst noch immer die alte Armbanduhr, die ich dir zu deinem neunten Geburtstag geschenkt habe? Die mit dem Speedy-Gonzales-Motiv?“
Kitty starrte verschämt auf ihr Handgelenk. „Sie leuchtet sogar noch, wenn man das Knöpfchen drückt. Ich hatte sie eigentlich jedes Jahr zu deinem Geburtstag am Arm, aber du hast es nie bemerkt.“
Sie ließ Speedys Gesicht auf dem Zifferblatt aufleuchten, begrüßte ihn wie damals mit Arriba, Señor! und äffte sein spitzes Grinsen nach.
Auch Judy versuchte sich an einer Speedy-Parodie. „Arriba, Señor. Mann, ist das toll, Dickerchen. Wir sind da, die Uhr ist da, unser Freund der Wind ist da ...“
„Freund? Na ja, damals war das anders.“ Kitty rieb sich die Arme, wie man es an kalten Tagen am Feuer tut. „Meist hatten wir ganz schön Respekt vor ihm. Vor allem nachts. Am Tag war er harmlos.“
„Da geigte er auch nicht.“ Judy nickte. „Am Tag war er das, was sie uns im Physikunterricht erzählt hatten: bewegte Luft. Nachts war er Musik. Ein Lied in Moll.“ Sie reckte den Hals zum Fenster. „Oh Gott, was war das denn?“
Sie sprang zum Fenster und lauschte hinaus. Regen trommelte auf ihren Nacken, und sie schüttelte sich. Dann rauschten zwei Autos vorbei. „Hat sich fast angehört, als würde ein Elefant trompeten.“
„Vielleicht ist ja ein Zirkus in der Stadt“, sagte Kitty, die inzwischen hinter ihr stand und sie mit ihrem Gewicht ans Fensterbrett presste, dann kicherten sie ihr Schulmädchengekicher.
Judy drehte sich um. „Meine Mutter sagte immer, früher hätten die Zirkusleute ihr Zelt auf dem