Sie lief zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, und im Rauschen des Regens, der wie wütende Schnäbel auf sie einpickte, vernahm sie obszöne Worte.
Sie musste bei Kitty läuten; es war die einzige Möglichkeit, nicht irgendwo unter einer Brücke schlafen zu müssen. Immer wieder blieb sie stehen und hielt sich die Seite, weil ihre Lungen sich jedem Atemzug widersetzten. Es war wie damals, als sie vor der Weißen Bande geflohen war: Hilflose Kinderangst, die sich auch nach Jahren noch genauso anfühlte.
Als sie vor der Tür des Mietshauses stand, in dem Kitty wohnte, läutete sie Sturm. Mein Dickerchen wird nicht öffnen, dachte sie, denn in bösen Filmen öffnete nie jemand. Ihre Blicke streiften Kittys Briefkasten, aus dem ein Versandhauskatalog ragte, ein in narbige Plastikfolie eingeschweißter Wälzer. Sie hielt ihn ins Licht der Straßenlaternen. Heute Morgen mit der Post gekommen. Warum hatte Kitty ihn bei ihrer Ankunft nicht mit ins Haus genommen?
Vielleicht, weil Kitty nie zu Hause angekommen war ...?
Die Brauerei. Warum war ihr dieser Gedanke nicht gleich gekommen? Ihr Geheimversteck. Bis der Morgen kam und die Straßen sich belebten, würde sie dort geschützt sein. Am Horizont platzte schon der Himmel und schickte die ersten Streifen Licht, wie beschlagenes Silber.
Zum ersten Mal im Leben stieg sie bei völliger Dunkelheit dort hinab. Hätte wenigstens ein Stern durch die Luke geblinzelt. Lieber Mann im Mond, falls du wirklich ein Engel warst, dreh jetzt mit deiner Laterne eine Ehrenrunde für mich. Auch wenn ich nicht mit dir Liebe machen wollte, hilf mir trotzdem. Dafür werde ich lernen, den Mond zu umarmen, und wir können ein Paar sein, wenn die warmen Nächte kommen.
Der Mann im Mond reagierte nicht. Er musste weit weg sein, so weit wie das Meer, oder wie Japan vielleicht.
Dann hörte sie jene Schritte, wie sie tack-tack-tack die Treppe herunterkamen. Stöckelschuhe. Nicht flink wie am Morgen, wenn die Welt erwacht, sondern langsam und schwer.
Nachtschritte.
Wenn sie nicht schlafen kann, steht sie auf und singt. Weil sie nach dem sucht, den sie verloren hat.
Kein fröhlicher Gesang, der hüpfte und perlte.
Nachtgesang.
Wenn der Himmel sich zuzieht und Winde sich quälen,
kommt der Mitternachtsengel, hat Hunger auf Seelen.
Judy summte mit. Dann fielen ihr weitere Worte ein, eine ganze Strophe. Als Kinder hatten sie sich vor diesem Lied gegruselt. Zumindest Judy. Vor diesem irren Liedchen, das niemand erfunden hatte, das es auf keiner Platte gab, das ihre Mutter nicht kannte, ihre Großmutter nicht, und von dem ihre Lehrerin sagte, es sei scheußlich, nichts für Kinder. Der Mitternachtsengel. Judy hatte ihn sich in schneeweißem Gewand vorgestellt, mit Fingernägeln wie Eiszapfen.
Von der kleinen Kitty im Hause dort drüben
sind nichts als silberne Schuhchen geblieben.
Sie hatten verschiedene Namen eingesetzt, ein Gruselspiel für Kinder. Von der kleinen Judy, der kleinen Melissa, von ihnen allen waren nur silberne Schuhchen geblieben. Oder ein Geigenkasten. Oder Hütchen, der Elefant. Das erste Opfer einer langen bösen Eiszeit.
Kommt der Morgenwind dann und bläst auf den Wegen,
weht dir nur der Geruch von Knochen entgegen.
Wer dieses Lied noch einmal singt, schreibt eine Strafarbeit. Aber war es denn so schlimm? Schlimmer als der Bi-Ba-Butzemann, dessen Name so lustig klang und der in Wahrheit auf Dachböden lebte und junge Vögel fraß? Oder der Heidschi Bumbeidschi, der in den Weihnachtstagen Babys aus ihren Wiegen raubte? Böse Mädchen sangen mit. Sie tat es jetzt.
Der Regen, der Regen hat alles gesehen,
und er schweigt, und er schweigt, bis die Spuren verwehen.
Die Stimme war jetzt ganz nahe. „Alles Gute zum Vierzigsten.“
Dann spürte Judy eine Hand, die sich um ihren Nacken legte und ihr die Schulter drückte, so wie man kleine Schwestern tröstet. Dann die Finger an ihrem Hals. Die sich keine Zeit ließen, sondern es schlagartig taten, wie eine zuschnappende Falle. Ihre Knie gaben nach.
Das Seltsame war, dass sie weich fiel, wie auf einen Kleiderhaufen oder einen Berg von Marshmallows. Während ihr letzter Schrei von einem hohen C erstickt wurde, klammerten sich ihre Hände an das nächstbeste Etwas – einen menschlichen Arm. Ein sanftes Licht strahlte auf. Speedy Gonzales, mit seinen frechen Mäusezähnen, grinste sie an.
„Arriba, Señor“, keuchte sie, bevor die Welt zu Eis erstarrte.
Kapitel 2 – Schmuddelbuddel
Meine zweite Geschichte, und etwas völlig anderes als „Nachtgesang“. Übrigens trotz der Ich-Form in keiner Weise autobiografisch. Nur eine Art Traum, a fantasy …
Schmuddelbuddel
Vom ersten Tag an, Schmuddelbuddel, haben sie dich alle verachtet.
Lange Zeit ahnten sie nicht mal, dass du hier wohntest. Wenn Mutti in mein Zimmer kam, rief ich: Schnell, Schmuddelbuddel, unters Bett! – und wie ein flinker Ball rolltest du in dein Versteck und gabst keinen Laut von dir, bis sie wieder draußen war. Manchmal blieb sie lange: straffte die Gardinen, enthaarte den Teppich und schrubbte sogar unsere Lieblingsposter, auf denen das Meer und der Himmel immer blasser wurden – alles schweigend, ohne mich anzusehen. Sobald sie wieder draußen war, explodierten wir beide förmlich vor Lachen, kugelten uns am Boden und schlugen Purzelbäume. Sie hatte ja keine Ahnung.
Schlimmer war es, wenn du erkältet warst und immerzu niesen musstest. Bis runter ins Esszimmer konnte man dich hören, und manchmal klapperte ich laut mit meinem Besteck, damit sie nichts mitbekamen. Sie sagten, wenn du nicht sofort aufhörst, nehmen wir dir den Teller weg, und du kriegst gar nichts zu essen.
Leider warst du ziemlich oft erkältet – kein Wunder. In Zuckerwatteland, wo du geboren bist, ist der Sommer länger als hier, und das Meer dort ist warm wie Badewasser. Mir war klar, dass du oft Heimweh hattest. Und wusste, dass du, wenn du unruhig schliefst und dich an mich schmiegtest, von deiner großen Kuschelhöhle träumtest. Wenn der Morgen kam und Mutti dreimal an die Tür klopfte – das Signal zum Aufstehen – schlüpftest du rasch in dein Versteck.
Oh Gott, weißt du noch, wie ich einmal von der Schule kam und nicht wie gewohnt deinen Schatten am Fenster sah? Diesmal ist es passiert, dachte ich. Diesmal haben sie ihn entdeckt. Ich wusste ja nicht, dass du mich überraschen wolltest und gerade unser Bett zur Kuschelhöhle umbautest. Ich dachte wirklich, sie hätten dich aufgespürt und in die Mülltonne gesteckt. Was ist das für ein Scheusal in Tobys Kinderzimmer? Wie schmutzig es ist. Igitt, wirf es raus.
Ich saß am Tisch und brachte keinen Bissen runter. Als ich begann, mit der Gabel herumzuspielen und dein Gesicht in die Soße zu zeichnen, warfen sie mir lange, schweigende Blicke zu und nickten. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Nicken zu bedeuten hatte. Vielleicht hieß es ja: Ab heute, mein Junge, bist du wieder allein. Ab heute ist dein Schmuddelbuddel nicht mehr bei dir.
Irgendwann ließ ich meine Portion einfach stehen und rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer, um nach dir zu suchen. Dein Versteck war leer, die Vorhänge zugezogen. Ich riss die Schranktüren auf, sah in meiner Aufregung sogar in den Schubladen nach – dann lugtest du auf einmal unter der Bettdecke hervor. Da fiel uns beiden nichts Besseres ein, als vor Freude zu heulen.
„Sollte doch 'ne Überraschung werden“, sagtest du. „Ich hab inzwischen die alten Träume aus deinem Bett gefegt, da verging die Zeit wie im Flug.“
Das freute mich natürlich. Deine Tage waren noch einsamer als meine. Schließlich konnte ich dich nirgendwohin mitnehmen, ob ich nun