Hitzemond. Oliver Fehn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Fehn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847606789
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Dann ging sie auf ihr Zimmer, stellte die Heizung ab, riss alle Fenster auf und schlief ein.

      Als sie Hütchen am nächsten Morgen aus seinem eisigen Gefängnis befreite, lächelte er wie immer. Es klebten aber Eisperlen an seinem Rüssel, und sein Fell, vollgesogen mit Judys gefrorenem Schweiß, fühlte sich klamm und borstig an. Sie fönte ihn ab und warf ihn auf den Garderobenschrank; dort blieb er liegen, bis Melissa zwei Tage später von ihrer Fahrt zurückkam. Man sah, dass ihr die Berge keinen Spaß gemacht hatten, vermutlich vor Sorge um Hütchen. Judy brachte ihr den Elefanten, und die große Schwester presste ihn an ihre Brust. Sofort jedoch musterte sie das Stoffbündel mit irrem Entsetzen.

      „Was hast du mit ihm gemacht?“ rief sie.

      „Was soll ich mit ihm gemacht haben?“

      Melissa ballte die Fäuste. „Er ist tot. Du hast ihn umgebracht.“

      Judy zeigte ihr den Vogel. „Wie kann er tot sein, du dumme Kuh? Stofftiere sind schon tot, wenn sie geboren werden. Schlitz ihm den Bauch auf, und du findest nichts als stinkende Holzwolle. Tot, meine Güte.“

      „Er ist tot“, flüsterte Melissa, und eine Träne fiel auf Hütchens Fell und blieb dort hängen wie Geifer. „Erfroren.“

      „Sie rannte in mein Zimmer, nichts hätte sie aufhalten können, und ich musste hilflos zusehen, wie sie sich rächte: an Frosty, meinem kleinen Eskimohund. Sie würgte ihn, ihre knochigen Finger krallten sich um seinen Hals. Es war entsetzlich.“ Als sie sah, wie der Mann im Mond eine Braue hob, sagte sie: „Natürlich, Frosty war auch nur ein Plüschtier. Aber, zum Teufel, nicht in diesem Moment.“

      Mooney trank von seinem Mondscheincocktail. Seine Augen blickten sanft und teilnahmsvoll, als erlebe er im Geiste alles mit.

      „Du wirst mich für übergeschnappt halten“, sagte sie nach einer Schweigeminute. „Frosty sah aus wie zuvor, seine lange rote Zunge leuchtete noch immer wie Himbeer-Götterspeise. Aber ganz sicher war ich mir nicht, was Melissa mit ihm angestellt hatte. Du verstehst, was ich meine. Oder verstehst es auch nicht. Hütchen und Frosty waren natürlich schon immer tot gewesen, aber jetzt waren sie ... irgendwie anders tot.“

      „Anders tot“, wiederholte Mooney, als sei es das Schlüsselwort. Das Schlimmste hatte sie ihm nicht erzählt: Nachdem Melissa ihrem Elefanten ein Totenkleid genäht und ihn im Garten begraben hatte, hatten sie und Kitty ihn heimlich wieder ausgebuddelt, waren damit nachts in ihr Zimmer geschlichen, hatten Hütchen mit einer Taschenlampe angestrahlt und sich dazu ein gruseliges Trompeten aus den Kehlen gequetscht. Melissa war vor Angst fast übergeschnappt. Aber solche Geschichten erzählte man nicht. Jedenfalls nicht Engeln, die immerzu froren.

      „Wir schließen.“ Der Wirt stand mit einem großen Portemonnaie vor ihrem Tisch. Erschrocken hob Mooney die Hand an den Mund, doch Judy winkte ab. „Ich zahle für uns beide. Darf ich ein Taxi rufen?“

      Er sah auf die Uhr, dann nickte er. Sie kramte in ihrer Börse. Kramte und kramte. Es fehlten ihr vierzig Cent.

      „Das geht nicht“, sagte der Wirt. „Das haben schon andere versucht. Hat Ihr Kavalier nichts einstecken?“

      Mooney fühlte sich nicht angesprochen. Nachdem Judy ihm erklärt hatte, worum es ging, schüttelte er den Kopf.

      „Wir brauchten kein Geld im Eispalast“, sagte er. „Ich hab nur Kautabak in meiner Tasche. Und Murmeln.“

      Der Wirt rief einen Frauennamen, und eine dicke Frau trat aus einem Verschlag.

      „Zechpreller, so nennt man das doch?“ sagte sie, nachdem der Mann sie aufgeklärt hatte. „Wir werden die Polizei rufen.“

      „Aber es sind nur vierzig Cent.“ Judy schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich kann es Ihnen morgen vorbeibringen.“

      „Sparen Sie sich’s.“ Der Wirt ließ das große Portemonnaie zuschnappen. „Mir reicht’s, wenn ich euch beide nicht wiedersehe. Und jetzt aufstehen und gute Nacht. Das Telefongespräch könnt ihr vergessen.“

      Der Regen versetzte ihnen wütende Ohrfeigen, als sie sich draußen in die Arme fielen. Mooney summte Everybody loves somebody, immer nur die eine Zeile, und wieder flüchteten sie in ihr Bushäuschen, und als Judy keine Stimme hörte, die da irgendwo sang, lachte sie. Der Wind war warm und der Regen süß; sie schnappte ein paar Tropfen mit den Lippen auf. Ihre Jubelstimmung verflog, als Mooney fragte:

      „Darf ich bei dir schlafen?“

      Sie räusperte sich. „Ich hab doch nur ein Hotelzimmer.“

      Er sah sie flehend an. „Bitte. Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll. Die anderen werden sich den Hintern abfrieren, in ihren Kellergewölben und unter den Brücken. Aber Mooney hat ein Zuhause. Weil er charmant ist und die Frauen ihn mögen.“ Er legte die Hände aufeinander, als wolle er beten. „Bitte.“

      „Okay. Vielleicht darfst du bei mir schlafen. Aber nicht mit mir.“

      Sein dankbares Lächeln schien ihn Mühe zu kosten. Wahrscheinlich hoffte er, es sei nicht ihr letztes Wort.

      Vielleicht war es ja nicht ihr letztes Wort.

      „Stimmt was nicht?“ fragte Mooney, als sie vor der Hoteltür standen. „Du guckst so seltsam.“

      Ja, du Schlaumeier, dachte sie, es stimmt was nicht. Sie kramte in ihrer Manteltasche, ihre Finger bohrten und tasteten, dann spürte sie Tränen in den Augen. Der Schlüssel war weg.

      Na klar, ihre Aktion mit dem Sturz. Die Taschentücher, die überall auf der Straße lagen. Der Schlüssel musste mit ihnen herausgefallen sein. Warum zum Teufel hatte Mooney die Taschentücher gesehen und nicht den Schlüssel?

      „Ich glaube, aus unserer gemeinsamen Nacht kann nichts werden.“ Sie erklärte ihm alles und ließ es so klingen, als hätte sie heute Nacht wer weiß was mit ihm anstellen wollen.

      „Das sagst du nur so, stimmt's?“ Mooney zog eine Schnute. „Du willst warten, bis ich weg bin, und dann allein pennen, stimmt's?“

      An seiner Stelle hätte sie das auch so interpretiert. Aber sie wollte ja gar nicht, dass er ging. Wenn Mooney weg war, war sie allein. Mit dem Regen und den leeren Straßen. Im Hotel gab es keinen Nachtportier, es befand sich nicht mal eine Glocke an der Tür. Sie war obdachlos. Sie waren es beide.

      „Ich werde dich nicht in Ruhe lassen“, sagte Mooney und packte ihren Arm. Würde nun dasselbe geschehen wie damals, ehe sie ihn in den Eispalast steckten?

      Sie tätschelte seine Hand. „Doch, das wirst du.“

      Er sah sie mit runden Augen an, dann blendete sie Scheinwerferlicht, und ein Bus hielt. Außer zwei jungen Mädchen stieg niemand aus. Der Bus war leer bis auf eine Japanerin, die ganz hinten saß und ihnen aus dem Fenster zulächelte. Judy winkte, und sie winkte zurück. Die Japanerin warf den Kopf in den Nacken und lachte. Sie wirkte beschwipst. Während der Motor im Leerlauf vor sich hingurgelte, sahen sie, wie der Busfahrer an einen Baum urinierte. Mooney klopfte an die Scheibe, und die Frau zeigte ihm die Zunge.

      „Sie will Liebe machen“, sagte er zu Judy.

      „Bist du dir da sicher?“

      Er nickte, als sei er auf diesem Gebiet ein alter Hase. „Die anderen müssen frieren. Unter den Brücken und in den Kellern. Aber der Mann im Mond wird es warm haben. Weil keine Frau ihm widerstehen kann.“

      Er streckte Judy die Hand hin und küsste sie auf die Stirn. „Nimm dich in Acht, Liebes. Sie sind unterwegs. Und wenn die Frau wieder singt, versteck dich gut. Sie sucht nach ihrem Liebsten. Und nach einem Mädchen, das ihn ihr weggenommen hat, für immer. Gott segne dich. Und grüß mir den Mond.”

      Er sprang in den Bus, dann sah Judy, wie er neben der Japanerin in den Sitz sank und eine Menge erzählte. Sie hob die Schultern und gestikulierte. Dann stieg der Busfahrer zurück in sein Cockpit, der Motor knatterte, und sie fuhren weiter. Der Mann im Mond winkte, und das Mädchen winkte mit.

      Judy sah ihnen nach und