♦
Nachdem sie die größte Strecke nach Vinea Clarissa zurückgelegt hatten, drehte sich Markus zur Prinzessin um.
„Sie ist noch nicht aufgewacht. Da brauchen wir wohl doch einen Eimer mit kaltem Wasser?“ Markus wunderte sich, dass die Bewusstlosigkeit so lange anhielt. Er hatte den Trick schon ein paar Mal genutzt, wenn er den Verdacht hatte, dass ein Sklavenhändler ihn betrügen wollte oder er den Preis nicht einsah.
„Fahre da drüben unter den schattigen Baum. Dort gibt es einen Bach. Da kannst du mit dem Ledereimer Wasser holen.“
Gemeinsam hoben sie die Prinzessin vom Wagen und legten sie ins weiche Gras. Vitus holte sein Sagum, die quadratische Decke, die bei kühleren Temperaturen als Mantel um den Körper geschlungen und mit einer Fibel zusammengehalten wurde. Den hatte er bis jetzt zusammengefaltet und zur Sitzunterlage auf dem Fuhrmannsbock genutzt. Dieses Bündel schob er der Prinzessin unter den Kopf und strich ihr die Haare aus dem Gesicht, um sie besser beobachten zu können.
„Dein Sagum muss wohl gewaschen werden? Der wird gleich nass, wenn wir die Prinzessin mit kaltem Wasser einweichen.“ Markus wollte nicht viel Aufhebens mit der Prinzessin machen, ließ aber Vitus gewähren. Tot nützte sie ihm nichts.
„W-wenn du die zu Clarissa bringst, dann h-holt sie sowieso Wisgard. U-und wenn Wisgard die P-Prinzessin klatschnass sieht, d-dann wird sie ihren Stock auf deinem B-Buckel zerbrechen wollen.“ Man sah Vitus an seinem verschmitzten Gesicht an, wie er sich das vorstellte.
Markus wusste, was Vitus meinte. Wisgard konnte richtig wild werden, wenn Menschen auf dem Gut schlecht behandelt wurden, egal ob Sklavin oder Herrin. Dort gab es keine Peitsche, wenn überhaupt, dann nur diesen Stock. Er, Markus, kannte diesen Stock, seit er acht Jahre alt war. Sie war eben Heilerin.
„Vielleicht zwicken wir die Prinzessin, damit sie munter wird.“
Vitus wiegte den Kopf hin und her. „W-Wo willst du sie denn z-zwicken? F-Frische blaue F-Flecke erkennt Wisgard s-sofort.“
Markus betrachtete die Prinzessin. Deren Gesicht war entspannt und das Kinn nach unten gesunken.
„Alle Zähne scheint sie zu haben“, meinte er.
„Dann pass auf, w-wenn sie munter wird. Die h-hat bestimmt großen H-Hunger und bei D-Dir ist viel dran zum A-Abbeißen.“
„Am besten ist es, ihr die Hände wieder zusammenzubinden. Wer weiß, welchen Unsinn sie beim Aufwachen macht. Wenn nur die Hälfte stimmt, was der Sklaventreiber erzählt hat, dann traut sie sich so manches.“
Nachdem Vitus die Hände mit dem Strick vom Pfahl zusammengebunden hatte, standen sie vor ihr und wussten nicht, wie weiter, außer mit kaltem Wasser. Mit Bewusstlosigkeit kannten sie sich kaum aus. So viel Erfahrung besaßen sie nicht, Markus mit seinen zweiundzwanzig Jahren und der drei Jahre ältere Vitus. Mit Verletzten, ob nach einem Schwertkampf oder durch die Arbeit, konnten sie umgehen. Das hier war neu für die beiden.
Markus kniete sich neben die Prinzessin und tätschelte ihr die Wange. Dabei spürte er, dass sich ihre Wangen röteten. Aber sonst war keine Reaktion zu erkennen. Markus zeigte auf die Wangen und Vitus verstand.
„O-Ob sie unsere Sprache v-versteht?“, fragte Vitus.
„Eine Prinzessin hinter dem Donaulimes beherrscht sicherlich Latein“, antwortete Markus.
„V-vielleicht musst du sie w-wachküssen, so wie in den G-Geschichten über Prinzen und Prinzessinnen.“ Vitus schaute genauer ins Gesicht der Prinzessin. Man sah, wie die Halsadern anschwollen. Nun legte er nach. „Markus, jetzt hast d-du die Gelegenheit unter ihre T-Tunika zu gucken. S-Sie hat keinen G-Gürtel, da kann man fast a-alles sehen.“
Augenblicklich waren die Augen der Prinzessin geöffnet und die Knie wurden zusammengepresst. Finster starrte sie erst Markus und dann Vitus an.
„W-Willst du was t-trinken?“, fragte Vitus. Keine Reaktion bei ihr.
Vitus ging zum Pferdewagen, um den Krug mit Wasser und einen Becher unter der Fuhrmannsbank hervor zu holen. Markus zog die Prinzessin an den gefesselten Armen in die Sitzposition und drückte ihr einen Becher voll Wasser in beide Hände. Sie hatte den ganzen Tag am Pfahl in der Sonne gestanden. Da war es nicht weit her mit dem Stolz einer Prinzessin. Gierig trank sie den Becher leer. Vitus sah sie fragend an und deutete noch einmal auf den Krug. Sie nickte kaum merklich und er füllte den Becher erneut. Den zweiten Becher trank sie schon bedächtiger. Hauptsache das Wasser kam nicht wieder heraus, so wenig, wie ihr Magen heute zu tun hatte.
„Dann können wir ja weiterfahren.“ Damit zog Markus die Prinzessin an den Fesseln auf die Füße und führte sie zum Wagen. Dabei achtete er darauf, dass sie nicht an sein Messer herankam.
♦
Mit Gerassel fuhr der Pferdewagen auf den Hof des Weingutes von Tante Clarissa und kam zum Stehen. Der Wagen hielt direkt vor dem Herrenhaus. Es gab eine breite Treppe zur Terrasse vor dem Eingang des Herrenhauses. Oben saßen auf einer Bank in der Sonne des späten Nachmittages die Herrin des Weingutes, Tante Clarissa, und die Heilerin Wisgard. Sie warteten schon eine Weile auf die Ankunft von Markus und der Fürstentochter, falls er sie gefunden hatte.
Markus war klar, dass die beiden neugierig waren. Er nannte Clarissa Tante, weil sie die langjährige Freundin seines Vaters war und über zwanzig Jahre älter als er. Wisgard nannte Markus Oma, weil er selber keine Oma gehabt hatte und sie dreißig Jahre älter war. Mit acht Jahren hatte er sich ein Bein gebrochen und musste über sechs Wochen in ihrem Reich der Heilkunst verbringen. Er hatte ihrem geliebten Apfelbaum beim Klettern einen großen Ast abgebrochen und sich dabei einen Beinbruch zugezogen. Zuerst hatte sie ihm mit ihrem Stock gehörig den Hintern versohlt, dann seinen Bruch behandelt und geschient. In den folgenden Wochen merkte er, welche warmherzige und großzügige Frau hinter ihrer rauen Schale steckte. Sie erzählte ihm viele Geschichten aus ihrer alten Heimat. Dann zeigte sie ihm, wie man aus Pflanzen Heilmittel herstellte und wofür sie verwendet wurden. Das brauchte man immer, meinte sie. In den letzten Wochen seiner Genesung musste er ihr im Kräutergarten helfen. Ihn hatte beeindruckt, mit welcher Energie sie um das Wohl eines jeden Patienten kämpfte. Oft hatte sie ihm gesagt, dass man eine Krankheit erst im Kopf des Patienten heilen musste. Erst später verstand er, was sie damit meinte. Aber seit dem Knochenbruch nannte er sie Oma Wisgard und immer, wenn er Vinea Clarissa besuchte, schaute er nach ihr.
Während Markus und Vitus die Prinzessin von der Ladefläche des Pferdewagens herunterholten, kamen die beiden älteren Frauen von der Veranda die Treppe herunter. Beim Gehen stützte sich Wisgard auf ihren Stock.
Vor der Prinzessin blieben sie stehen. Bei ihrem Anblick verfinsterte sich das Gesicht von Wisgard. Die Fürstentochter bemühte sich um eine aufrechte Haltung. Aber die Lumpen, die sie anhatte, der Dreck auf ihrer Haut, ihre verfilzten Haare, der Gestank, die gefesselten Hände und der verunsicherte Blick der jungen Frau zeigten Wisgard, wie sie litt.
„Hast du wenigstens den Sklavenhändler erschlagen?“, fragte sie Markus wütend ohne den Blick von der Prinzessin zu lassen.
„Das hätte ich getan, aber in der Zwischenzeit wäre sie am Pfahl verdurstet.“ Jetzt musste er sich auch noch vor Wisgard verteidigen. Aber er merkte, dass es mit ihrer Attacke um den Kopf der Prinzessin ging. Sie signalisierte Beistand gegen jeglichen Feind und ‚dir wird nichts passieren, mach jetzt keine Dummheiten‘.
Wisgard und die Prinzessin schauten sich die ganze Zeit in die Augen. Clarissa und Markus warteten ab. Vitus ging um den Pferdewagen herum und half dem Stallmeister des Weingutes beim Ausschirren der Pferde. Ihr großer Hengst und der Stallmeister waren nicht die besten Freunde.
„Halte mal meinen Stock, Markus“, sagte Wisgard im Befehlston und hielt ihm diesen hin. Sie hatte eine Patientin und da galt bei ihr weder Rang noch Namen. Dabei hielt sie den Blickkontakt mit der Prinzessin aufrecht. Langsam zog sie ihr Messer aus ihrem Gürtel.
„Halte deine Hände vor, Mädchen. Ich befreie dich von deinen Fesseln“, sprach Wisgard in sanfterem Ton.
Ebenso