„Wir müssen noch … Nanu, was ist denn da los?“ Ein lautes Poltern auf dem Gang lässt sie ins Stocken geraten. Im nächsten Moment wird die Tür aufgerissen und es stürmen drei Männer in blauen Arbeitshosen das Klassenzimmer.
„Klasse 10 b?“, fragt ein großer Glatzkopf.
„Onkel Ernst!“, ruft Olaf und springt begeistert auf. Als ihm klar wird, wie absolut uncool er sich gerade benimmt, lässt er sich eilig wieder auf seinen Stuhl fallen und grinst die Männer debil an.
„Leute, hier sind wir richtig.“, sagt er zu seinen Kollegen, die eine schwere Holzkiste abstellen und sich theatralisch die Rücken geradebiegen.
Barbara Kästner räuspert sich pikiert. „Darf ich die Herren fragen, wer Sie sind und was diese Unterbrechung meines Unterrichts zu bedeuten hat?“
„Wir sind die neue Patenbrigade und wir haben Geschenke mitgebracht.“, lacht Olafs Onkel Ernst munter.
„Die neue Patenbrigade?“ Einen Moment lang kann man unserer Pionierleiterin förmlich beim Denken zusehen. Dann trifft sie der Funke der Erkenntnis. „Ah, die Musikanten aus Markneukirchen! Wir hatten ja telefoniert!“, ruft sie aufgeregt.
„Musikinstrumentenbauer, um genau zu sein.“, erwidert einer von Ernsts Kollegen.
„Vom VEB Musima Markneukirchen.“, mischt sich auch der dritte Werktätige in das Gespräch ein.
Barbara Kästner hat sich wieder gefangen und gibt den drei Männern artig die Hand. „Liebe Klasse 10 b,“, wendet sie sich dann uns zu. „Darf ich euch eine Delegation eurer neuen Patenbrigade vorstellen?“ Sie deutet mit den Händen auf die drei Männer, die breit grinsend neben ihr stehen.
Plötzlich ist kein Halten mehr. Die Jugendlichen, die bisher mit distanzierter Neugier das Treiben vor der Tafel verfolgt haben, brechen in lauten Jubel aus. „Der Schulausflug ist gerettet.“, fasst Jens den Hauptgrund für die Freude der Schüler in Worte.
„Hallo FDJler.“, ruft Olafs Onkel und grinst fröhlich in die Runde. „Wir sind Ernst,“, dabei zeigt er auf sich, „Jochen und Karl-Heinz.“ Damit wären alle drei vorgestellt. „Natürlich konnte nicht die ganze Patenbrigade kommen, es ist ja doch ein Stück Anfahrt aus dem Vogtland, aber bei eurem Gegenbesuch werdet ihr die anderen ja kennen lernen.“
„Was haben Sie uns da mitgebracht?“, ruft Alex, der wie immer immun gegen jede Form von Anstand ist und deutet auf die Kiste.
Mit feierlicher Miene heben Ernst und Karl-Heinz den Deckel der Kiste an. Jochen zwirbelt zufrieden seinen Schnurrbart, dann greift er hinein und fördert eine Unmenge Verpackungsmaterial zutage.
„Knallfolie!“, ruft Yvonne und klatscht begeistert in die Hände.
„Bist du dämlich.“, macht sich Kalle sofort über sie lustig. „Das ist doch nicht das Geschenk.“ Er verdreht spöttisch die Augen und erntet damit sogar den ein oder anderen Lacher.
„Tadaaa!“ Jochens Ausruf lenkt die allgemeine Aufmerksamkeit wieder nach vorn, wo er einen länglichen Gegenstand aus der Kiste gezogen hat und nun wie eine Trophäe über den Kopf hebt.
„Ist das eine Gitarre?“, fragt Matthias verwundert.
„Das ist nicht irgendeine Gitarre. Das ist eine Leadstar!“, platzt es aus Robert heraus. Seine Augen bekommen einen magischen Glanz. Ich bin versucht, ihn festzuhalten, um zu verhindern, dass er aufspringt und Jochen mitsamt Gitarre umrennt, aber er scheint sich unter Kontrolle zu haben.
Karl-Heinz hebt inzwischen eine weitere Gitarre aus der Verpackung und präsentiert sie uns lächelnd.
„Ich werd nicht wieder!“, japst Robert. „Eine Heavy. Die Dinger werden nur in ganz begrenzten Stückzahlen hergestellt. Sowas kostet ein Vermögen.“
„Und einen Action-Bass obendrauf.“, grinst Ernst in die Runde und präsentiert uns das dritte und offenbar letzte Geschenk unserer Patenbrigade.
Nicht nur Robert hängt der Unterkiefer auf Brusthöhe, auch die meisten anderen unserer Mitschüler sind sprachlos über so viel Gönnerhaftigkeit. Zwar weiß kaum einer von uns, wie schwer zu beschaffen und teuer solche Instrumente sind, aber allein die Tatsache, dass wir so etwas noch nie zuvor im Original gesehen haben, macht sie in unseren Augen zu wertvollen Schätzen.
Nur Alex muss mit seinem ewigen Nörgeln die Stimmung untergraben. „Und was wollen wir damit?“, fragt er pampig.
Ernst schaut einen Augenblick indigniert in die Runde, dann schüttelt er den Kopf, so als könne er damit auch gleich Alex‘ schreckliches Benehmen abschütteln. „Du bist offenbar nicht mit in der Band. Die sind für eure neue AG Popmusik. Frau Kästner hat uns einiges davon erzählt und da wir ja sozusagen an der Quelle sitzen, haben wir die drei Schmuckstücke mitgebracht, um euch zu helfen.“
„Ach, dann haben gar nicht alle was davon?“, schaltet sich Kalle ein, der wie immer versucht, sich bei Alex einzuschleimen.
„Alle, die an der AG teilnehmen, können auch auf den Instrumenten spielen.“, stellt Barbara Kästner mit einem strengen Seitenblick auf uns vier Bandgründer fest. Mir wird leicht mulmig zumute. Was ist, wenn die Gitarren so eine Sogwirkung entfalten, dass noch mehr Leute bei der AG mitmachen wollen. An so etwas hatten wir gar nicht gedacht, als wir die Idee hatten, die Infrastruktur der Schule für unsere Zwecke zu nutzen.
„Ist das nicht viel zu teuer?“, fragt Juliane kritisch nach. „Ich meine, da gehen doch wertvolle Ressourcen für unsere Volkswirtschaft verloren, wenn für die Gitarren nicht ordentlich bezahlt wird.“
Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie Robert rot anläuft. Will die blöde Kuh uns jetzt noch die Instrumente abspenstig machen? Am Ende verkauft sie die Dinger noch und spendet den Erlös an Nicaragua.
„Nein, nein.“, beruhigt Karl-Heinz sie. „Das sind Geräte mit kleinen Fehlern, die so nicht in den Verkauf gehen würden. Wir haben sie aus dem Lager für unsere Restposten genommen.“
„Ah, also Ausschuss.“, stellt Alex mit einem befriedigten Blick in unsere Richtung fest.
„Das würde ich jetzt auch nicht sagen.“, murrt Jochen. „Sie spielen völlig fehlerfrei, nur ein paar optische Mängel.“ Er zuckt entschuldigend die Schultern.
„Na, dann viel Spaß mit euren Zweite-Klasse-Schrammen.“, zischt uns Kalle zu. Ich nehme es gelassen zur Kenntnis. Auf jeden Fall ist so dafür gesorgt, dass wir ihn und Alex schonmal nicht bei der AG treffen werden.
„Verdammte Scheiße!“, brummt Olaf, als er sich am frühen Morgen des 7. Oktober endlich zu uns durchgequetscht hat. Wir stehen wie die Sardinen zwischen tausenden anderen missmutig dreinblickenden Schülern auf der Karl-Marx-Allee bereit, den Parteioberen auf der Ehrentribüne im ehrfurchtsvollen Vorbeilaufen für einen Augenblick unsere winkenden Hände und glücklichen Gesichter zu präsentieren. Ein kalter Wind weht uns um die Ohren und kündet davon, dass der Sommer 1988 endgültig der Vergangenheit angehört.
„Ganz meine Meinung.“, stimmt ihm Robert zu. „Ich frage mich, welcher Idiot auf die Idee gekommen ist, uns an einem Feiertag schon 8 Uhr morgens hier antanzen zu lassen!“
„Mein Vater hat‘s gut.“, fällt Sirko in das allgemeine Gemecker ein. „Der ist bei der Kampftruppe und die sind immer als letzte dran. Als ich aus dem Haus bin, kam er gerade in Unterhosen aus dem Schlafzimmer gewankt.“
„Erspar uns bitte die Details!“, ruft Robert theatralisch.
„Ach, das mein ich doch gar nicht.“, jammert Olaf. „Es geht doch um den Verstärker.“
„Achso, ja, das war echt ätzend, oder?“, kommentiert Robert unsere gestrige, unfreiwillig verkürzte Bandprobe. „Da haben wir uns so schön vor dem FDJ-Themennachmittag drücken können, und