Der Motorradfahrer steigt ebenfalls ab und nimmt den Helm vom Kopf. Er streicht mit seiner linken Hand durch die dunkelbraunen Haare, die trotz des Helms erstaunlich gut sitzen. Ganz eindeutig ist das nicht Janas Vater. Sie hat sich also von ihrem Bruder zur Schule fahren lassen. Wie süß. Ich wusste gar nicht, dass sie einen Bruder hat. Aber so eng sind wir ja auch noch nicht, dass ich ihre Familienverhältnisse in- und auswendig kennen würde.
Beinahe zärtlich berührt seine Hand unter den Augen der Schulhofbesatzung Janas Wange. Ihre Münder nähern sich einander und es folgt unter dem herzerwärmenden kollektiven Seufzen der Siebt- bis Zehntklässlerinnen ein langer Kuss mit allem drum und dran. Vermutlich einer der eher feuchteren Sorte, geht es mir irrsinniger Weise durch den Kopf.
„Ekelerregend, was?“, reißt mich eine Stimme von links aus diesem Albtraum.
Ich drehe den Kopf und blicke in Falks blaue Augen. Ich bin mir nicht sicher, aber es scheint mir, als hätte ihn diese öffentliche Zurschaustellung inniger Zweisamkeit mehr mitgenommen, als ich es bei einem Frauenschwarm wie ihm erwartet hätte. Es muss ein wahrer Tiefschlag für ihn sein, dass es offensichtlich ein noch ranghöheres Alphamännchen im Revier gibt.
Zum ersten Mal in meiner Schullaufbahn spüre ich den Drang, Falk in seiner Einschätzung der Situation beizupflichten. „Ach, der muss sowieso bald zur Fahne.“, sage ich, weniger, um ihn zu beruhigen als zur Massage meiner eigenen geschundenen Nerven.
„Eifersüchtig?“, fragt er mich mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.
„Quatsch!“, entfährt es mir ein Bisschen zu schnell und ein Bisschen zu heftig.
Er wirft mir einen letzten wissenden Blick zu, schielt noch einmal kurz zu Jana, deren Freund sich bereits wieder auf das Motorrad geschwungen hat und verschwindet schnaufend in der Schule.
Sirkos Stimme lenkt mich von meinen schwermütigen Gedanken ab. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“
„Er sieht echt aus wie ein Haufen Scheiße, oder?“, fällt Robert ein vernichtendes Urteil.
„Es heißt Häufchen Elend.“, weißt ihn Sirko grinsend zurück.
„Habt ihr nicht eben Jana rumknutschen sehen?“, fragt Olaf empört. „Schon wieder ein neuer Typ mit einem fetten Motorrad.“ Mitfühlend legt er mir die Hand auf die Schulter. „Alter, der geht sowieso bald zur Fahne.“, versucht unser Schwergewicht mich aufzumuntern.
Ich fasse es nicht. Ausgerechnet dieser doofe Spruch scheint mein neues Mantra zu sein. Ich spüre ein Kribbeln in der Magengegend, das sich langsam, aber unaufhaltsam einen Weg Richtung Kehlkopf sucht und dabei immer größer, stärker und drängender wird. In einem letzten Anflug der Verweigerung schnaube ich durch die Nase, doch dann kann ich das Kichern nicht mehr unterdrücken. Es bricht sich Bahn und sprudelt aus meinem Mund heraus.
Sirko, Olaf und Robert stehen bedröppelt neben mir, während mehr und mehr Mitglieder der auf dem Schulhof versammelten Schülerschaft in mir eine neue Attraktion entdecken und sich ein loser Ring interessierter Gaffer um uns bildet. Als ich mir den Bauch halten muss, wird es Robert zu bunt. Er tippt sich gegen die Stirn und ruft lautstark als Erklärung für alle Umstehenden: „Total gaga, der Mann.“
Bevor er weiter über meinen geistigen Zustand dozieren kann, rettet uns die Schulklingel, die über den Platz schrillt. In Windeseile löst sich der Kreis um uns auf und alles stürmt ins Schulgebäude hinein, um ja rechtzeitig auf den Plätzen zu sein. Mein fatalistischer Kicheranfall versiegt, ich bin aber reichlich erschöpft und so greifen mir Sirko und Olaf im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme. Ich sehe noch, wie direkt vor uns Jana Gebauer durch das Tor schlüpft. Ob sie mich gesehen hat, kann ich nicht sagen, aber im Augenblick ist das sowieso egal.
„Was ist denn das für ein Geschramme?“, wundert sich Olaf, als er endlich zu unserem Treffpunkt auf dem Spielplatz kommt.
„Schon fertig mit putzen?“, zieht ihn Robert auf, ohne auf Olafs Frage einzugehen.
„Ach, leck mich!“, kontert der Reinigungsdiensthabende wortgewandt.
Sirko hat seinen mira-Kassettenrekorder mitgebracht. Robert hat gemeint, er hätte neues Material. Aus dem einzigen Lautsprecher tönt etwas blechern Formel 1.
„Formel 1.“, gehe ich endlich auf Olafs Frage ein.
Der glotzt leicht verwirrt zwischen mir, Robert und Sirko, der auf der Bank steht und seinen Kopf mit den immer noch recht kurzen Haaren im Takt der Musik herumwirbelt, hin und her.
„Ich weiß, die Platten sind schon etwas in die Jahre gekommen. Aber so eine gute Aufnahme habe ich noch nie gehabt.“, rechtfertigt sich Robert für eine Kritik, die uns so gar nicht in den Sinn gekommen wäre.
Andächtig lauschen wir einigen Klängen. Ein leichtes Fiepen liegt unter der Tonspur.
„Gut Aufnahme?“, wundert sich Olaf.
„Hey, das ist schließlich live.“, regt sich Robert nun richtig auf. „Und was kann ich dafür, dass ich nur Eisenkassetten bekommen habe? Chrom waren ausverkauft. Die hat er auch nicht gehabt.“
„Wer?“, fragt Olaf, der immer noch auf der Leitung zu stehen scheint.
„Erich Honecker.“, ruft Robert, wirft die Arme in die Luft und rollt mit den Augen. „Der Typ beim Tapetrading, natürlich.“, fügt er dann mit etwas sanfterer Stimme hinzu.
„Robert war am Wochenende bei so einer Tauschaktion.“, erklärt Sirko, bevor Olaf weitere blöde Fragen stellen kann. „Jeder bringt mit, was er so hat und dann tauscht man Kassetten. So kommt man immer wieder zu was neuem.“
„Aha.“, entfährt es Olaf. „Und da hast du nichts besseres als eine olle DDR-Band gekriegt?“, mault er.
„Ha, hör sich einer den an.“, echauffiert sich Robert. „Denkst du, ich gehe da einfach so hin und frag nach AC/DC und dann krieg ich das einfach?“
„Ja, dachte ich.“, gibt Olaf ehrlich zu.
„Mann, Mann, Mann. Du hast eindeutig zu lange am Putzmittel geschnüffelt.“, meckert Robert und zeigt ihm einen Vogel. „Beim Tauschen geht es um Werte. Wenn ich AC/DC haben will, muss ich schon wenigsten was Ausgefallenes von Led Zeppelin bringen. Oder Black Sabbath. Da stehen die Leute drauf. Da ich das aber nicht habe, muss ich kleinere Brötchen backen.“
„Und wie kommt man dann an die guten Sachen?“, hakt Sirko interessiert nach.
Robert zuckt ergeben mit den Schultern. „Westverwandtschaft, die einem die neuen Tapes rüberschmuggelt. Oder auf Partys heimlich kopieren, wenn alle besoffen sind.“, fügt er grinsend hinzu. „So bin ich an eine Van Halen gekommen.“
„Cool.“, lautet Olafs ehrfürchtiger Kommentar.
„So langsam wird das was mit den Haaren.“, sage ich und schaue in die Runde. Robert hatte schon immer verzottelte Loden. Durch diesen Vorsprung stoßen die ersten Spitzen seiner Haare schon an die Schultern. Bei uns anderen sieht es noch nicht so rosig aus. Sirko und ich haben es geschafft, die Ohren überwuchern zu lassen, aber bei Olaf wächst das Haar eigenartigerweise vor allem hinten, kaum aber oben und an den Seiten.
„Wie siehst du eigentlich aus?“, greift Robert das neue Thema dankbar auf. Auch ihm ist der eigenartige Look von Olafs Frisur aufgefallen.
„Meine Mutter hat gemeint, ich sähe aus wie ein Hippie und hat dran herumgeschnippelt.“, windet er sich.
„Ach, Scheiße! Was mischt die sich denn da ein?“, jault Robert auf.
„Kein Grund zur Panik.“, versucht Sirko beschwichtigend einzuwenden.
„Kein Grund zur Panik?“, wendet sich Robert angriffslustig an ihn. „Sollen wir vielleicht mit einem Skinhead in einer Metalband spielen?“