„Komm, versuch es mal. Ich stütze dich“, sagte Ellen fordernd.
Gerd versuchte sich aufzurichten, Ellen half ihm dabei. Er stand auf einem Bein.
„Nun setz’ doch mal vorsichtig den anderen Fuß auf!“ kommandierte Ellen weiter.
Vorsichtig setzte er den Fuß auf den Boden und belastete ihn langsam, kontinuierlich zunehmend stärker. Dabei zuckte er noch zwei- bis dreimal zusammen und verzog das Gesicht, während Ellen ihm immer noch unterstützend zur Seite stand. Schließlich stand er wieder auf beiden Füßen, schüttelte die Hände seiner Mutter ab, die ihn immer noch gehalten hatte, und sagte: „Geht schon wieder.“ Dann ging er langsam und etwas hinkend die Treppe hinab zum Hobbyraum, wo die anderen Kinder, die das kleine Malheur anscheinend gar nicht mitbekommen hatten, bereits diskutierten, welches Spiel man denn jetzt spielen sollte.
Ellen schaute ihm so lange nach, bis er im Hobbyraum verschwunden war. Dann schaute sie nach oben, wo die anderen Erwachsenen standen und von wo aus sie den Vorgang beobachtet hatten, um bei Bedarf ebenfalls Hilfe leisten zu können. Aber nun war ihr Einsatz offenbar nicht nötig. Und davon abgesehen war der Treppenabsatz auch ein bißchen zu eng, um dort mit mehreren Personen adäquat Hilfestellung geben zu können. Ellen kam wieder die paar Stufen hinauf und sagte: „Jugendlicher Übermut! Nichts als Übermut!“
„Aber so schlimm war es wohl nicht“, erwiderte Klaus. „Es scheint doch alles schon wieder paletti zu sein.“
„Scheint so, aber wir sollten es beobachten“, gab Ellen zu bedenken. „Wenn das Gelenk anschwillt, dann müssen wir damit zum Arzt.“
„Hoffentlich ist es nicht gebrochen?“ sorgte sich Chan.
„Nein, das glaube ich nicht“, beschwichtigte Klaus. „Dann wäre er sicher nicht gleich wieder gelaufen. Das würde er nämlich bei jedem Auftreten ganz schön merken.“
„Vermutlich“, bestätigte Ellen. „Aber hoffentlich ist es auch kein Bänderriß.“
„Also, jetzt wollen wir hier mal nicht den Teufel an die Wand malen, Ellen“, wiegelte Klaus ab. „Wenn er weiterhin Schmerzen hat, dann wird er sich ganz von alleine melden.“
„Das denke ich auch, Ellen“, pflichtete Chan ihm bei. „Dann sagt er das ganz bestimmt.“
Ellen nickte zustimmend und sagte dann nach kurzer Pause: „Ich werde es mir nachher noch einmal genauer anschauen, und gegebenenfalls werden wir halt einen Notarzt aufsuchen. Denn wenn es wirklich etwas Ernstes sein sollte, dann möchte ich damit nicht bis Montag warten.“
„Müßt ihr eigentlich den Notdienst extra bezahlen?“ wollte Qiang wissen.
„Nein“, antwortete Ellen. „Das ist alles durch die AGV, also die ‚Allgemeine Grundversorgung’, abgedeckt, weißt du. Das ist eine staatliche Versicherung, die . . .“
„Nein, nein, das stimmt so nicht“, unterbrach Klaus seine Frau. „Die AGV ist eine privatwirtschaftlich geführte Non-Profit-Firma, die . . .“
„Wie bitte?“ fragte Qiang verwundert. „Eine privatwirtschaftlich geführte Non-Profit-Firma? Das ist ja ein Widerspruch in sich! So etwas gibt’s doch gar nicht! Jede Firma will und muß einen Gewinn erwirtschaften, um wieder investieren zu können.“
„Doch, so etwas gibt es“, widersprach Klaus. „Ich wollte es ja gerade erklären! Wir haben es hier zugegebenermaßen mit einer Sonderkonstruktion zu tun, das ist schon richtig. Es geht hier um die grundlegenden Ansprüche eines jeden Bürgers, die ihm nach unserer Verfassung zustehen und die daher vom Staat gewährleistet werden müssen. Deshalb ist der Staat bei dieser Versicherung Mehrheitsaktionär mit 51 Prozent und kann die Geschäftsziele und die Verwendung der steuerfinanzierten Mittel bestimmen. Aber das tägliche Geschäft wird wie in einem ganz normalen privatwirtschaftlichen Unternehmen abgewickelt, und der Geschäftsführer muß, wie in der Privatwirtschaft üblich, den Eigentümervertretern Rechenschaft ablegen.“
„Und um welche Ansprüche geht es dabei?“
„Jeder Bürger der EU hat Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das gilt übrigens auch für Ausländer, die hier leben – deshalb auch für euch, wie ihr ja wißt. Dieser Anspruch umfaßt ein generelles monatliches Grundeinkommen unabhängig von der eigenen Arbeitsleistung, die Ausbildung und den freien Zugang zum Informationsnetz, gleiches Recht vor dem Gesetz, medizinische Grundversorgung und Sozialfürsorge, Wohnraum und freie Wahl der Erwerbsmöglichkeit. Mit anderen Worten: Bei uns muß niemand hungern und auf der Straße leben. Niemand muß auf Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen und ärztliche Behandlung im Krankheits- oder Pflegefall verzichten. Niemand muß ungebildet und unwissend bleiben. Niemand darf rechtlich benachteiligt werden. Niemand darf an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit seiner Wahl gehindert werden, solange sie nicht ungesetzlich ist.“
„Sehr sozial!“ lobte Qiang anerkennend.
„Ja, wir leben in einer wirklich sozialen Marktwirtschaft, und wir nehmen unsere Grundsätze sehr ernst“, sagte Klaus mit einer gewissen Genugtuung.
„Allerdings, der letzte Punkt ist mir nicht ganz klar. Ist es nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit, daß sich jeder eine Erwerbstätigkeit seiner Wahl suchen kann?“
„Eigentlich schon. Aber bei uns hat man in der Vergangenheit zugereisten Ausländern diese Möglichkeit häufig verwehrt, weil man der Meinung war, die nähmen unseren einheimischen Bürgern die Arbeitsplätze weg. Also, die wollten arbeiten, durften aber nicht. Dafür hat man ihnen Sozialhilfe gewährt, denn von irgend etwas mußten sie ja schließlich leben. Ein Schwachsinn! Das ist Gott sei Dank Vergangenheit.“
„Schön und gut, aber das muß ja alles irgendwie bezahlt werden.“
„Wird es! Das ist die Aufgabe der AGV. Sieh mal: Früher hatten wir allein in Deutschland über 200 Krankenkassen, von den anderen Versicherungen mal ganz abgesehen – was für ein Quatsch! Heute haben wir nur noch eine staatliche, das heißt nicht profit-orientierte, gesetzliche Pflicht-Versicherung, die sehr effizient wirtschaftende AGV. Allein schon dadurch ist der Kostenaufwand für Verwaltung, Personal und Infrastruktur drastisch gesenkt worden. Die AGV spart also gegenüber dem früher undurchsichtigen Versicherungsdschungel sehr, sehr viel Geld. Aber natürlich braucht sie auch Einnahmen, um die nicht unbeträchtlichen Leistungen im Umlageverfahren finanzieren zu können. Dazu zweigt der Staat bei jedem Kapitaltransfer automatisch – neben 20 Prozent für die Steuer – auch 10 Prozent für die AGV ab, so daß jedem Bürger lediglich 70 Prozent seines Nominaleinkommens verbleiben. Dem kann sich niemand entziehen, weil alle Transaktionen bei uns bargeldlos abgewickelt werden, denn es gibt ja kein Geld mehr. So werden zwangsläufig alle an der Finanzierung beteiligt. Du siehst es ja an deinen eigenen Abgaben. Und auf diese Weise kommt schon einiges bei der AGV zusammen, so daß sie ein ganz schön großes Kapitalpolster hat.“
„Ja, leider müssen wir uns auch an diesen Abgaben beteiligen, obwohl wir hier gar keine medizinischen, sozialen oder sonstigen Leistungen in Anspruch nehmen.“
„Doch, ihr habt zum Beispiel die Schulausbildung eurer Kinder frei.“
„Das stimmt, ja. Aber das ist auch schon alles. Ansonsten sind wir ja in China versichert.“
„Das ist eure persönliche Entscheidung. Ihr könntet ja auch hier zum Arzt gehen. Jedenfalls können wir nicht beliebig viele Ausnahmen machen, das würde das ganze System wieder so unübersichtlich machen, wie es früher war. Davon wollten wir ganz bewußt endlich wegkommen! Deshalb haben alle hier in Europa lebenden Bürger die gleichen Rechte und Pflichten. Gleichberechtigung – das wird doch auch sonst immer gewünscht! Also, wer hier leben will, muß sich den Gesetzmäßigkeiten und Gegebenheiten anpassen. Somit müßt ihr auch euer Scherflein dazu beitragen, wie jeder andere – ganz gleich, ob ihr die angebotenen Leistungen in Anspruch nehmt oder nicht.“
„Sicher,