„An den Vorteilen der AGV partizipieren wir allerdings nicht gerade viel“, bemerkte Chan. „Denn die Krankenversicherung nutzen wir zum Beispiel überhaupt nicht, weil wir regelmäßig zweimal im Jahr in China gründlich untersucht und nötigenfalls ärztlich versorgt werden. Wir haben bisher in den ganzen fünf Jahren, die wir inzwischen hier leben, noch nicht ein einziges Mal einen Arzt gebraucht! Naja, und die Erwerbslosenversicherung werden wir sicher – das hoffe ich jedenfalls! – nie in Anspruch nehmen müssen.“
„Weiß man’s?“ fragte Ellen, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. „Aber mit der Krankenversicherung wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher. Es kann immer ganz schnell mal was passieren, wie gerade bei Gerd zum Beispiel. Und wenn sich eins eurer Kinder nur mal beim Sport verletzt, schon mußt du zum Arzt mit ihm, und dann kannst du froh sein, daß du versichert bist.“
„Ja, klar, so einen Fall kann ich nie ausschließen. Fragt sich nur, ob ich in Summe nicht besser wegkäme, in so einem Fall privat zu verrechnen, anstatt von allen Kapitaltransfers 10 Prozent für die AGV abzuführen.“
„Das hängt natürlich von der Schwere der Krankheit oder Verletzung ab“, wandte Ellen ein. „Eine Operation kann schon ganz schön teuer werden.“
„Ja, sicher. Aber es ist eigentlich müßig, darüber nachzudenken, denn ich habe ja keine Alternative. Ich lebe in dem System, und also muß ich mich dessen Regeln beugen und brav meine Beiträge abführen. Lediglich die freiwillige Zusatzversicherung kann ich mir sparen.“
„Warum fahrt ihr eigentlich immer nach China zum Gesundheits-Check? Das ist doch ganz schön aufwendig. Habt ihr kein Vertrauen zur westlichen Medizin?“ wollte Ellen wissen.
„Hm, . . . nein, das ist es eigentlich nicht“, antwortete Chan. „Natürlich sind wir mit der chinesischen Medizin besser vertraut, das ist keine Frage. Aber wir hegen auch kein Mißtrauen in eure Medizin – wie kämen wir dazu? Wir haben ja bisher keinerlei Erfahrungen damit gemacht. Nein, es ist einfach so, daß wir zu unserer Familie und zu unserem Land eine gute und enge Bindung haben und aufrechterhalten wollen. Und Beziehungen müssen nun mal gepflegt werden, sonst gehen sie verloren. Deshalb fahren wir regelmäßig rüber und pflegen sie. Ja, und wenn wir dann schon mal dort sind, dann nutzen wir die Gelegenheit und lassen uns gleich noch durch-checken. Wir verbinden also einfach das Nützliche mit dem Angenehmen!“
„Verstehe!“ antwortete Ellen lakonisch.
Das hätte ein guter Schlußpunkt für dieses Thema sein können, und Chan wäre dies sicher sehr recht gewesen, weil sie ohnehin nicht die Absicht hatte, hier in Deutschland einen Arzt zu konsultieren. Aber Ellen schien gerade erst richtig zu weiteren Erläuterungen ausholen zu wollen, bevor Klaus sie unterbrach: „Entschuldige mal, macht es euch was aus, wenn wir beide“, und er meinte Qiang und sich, „uns noch ein bißchen in die Ecke zurückziehen? Ich habe mal wieder ein paar technische Fragen an Qiang.“
„Nein, nein. Geht ihr nur“, erwiderte Ellen, „wir kommen schon allein zurecht.“
Mit dem Essen war man ohnehin schon längst fertig, und die Kinder hatten sich bereits vor längerer Zeit in ihren Hobbyraum zurückgezogen.
„Weißt du“, nahm Ellen den Faden wieder auf, nachdem sich die Männer verzogen hatten, „nur um das Thema von eben abzuschließen, möchte ich gerade noch zwei, drei Sätze anfügen.“
Aber, als mochte sie sich mit dem Ergebnis dieser Diskussion nicht zufriedengeben, insistierte sie weiter: „War überhaupt schon mal einer von euch hier beim Arzt?“
Und wieder wartete sie keine Antwort ab, sondern sprach ohne Pause weiter: „Wir haben hier übrigens auch schon seit langem Ärzte, die sich auf TCM verstehen.“ Sie gebrauchte die übliche Abkürzung für ‚Traditionelle Chinesische Medizin‘. „Ihr würdet euch also in gewohnter Umgebung und Behandlung wiederfinden. Also, wenn doch mal jemand von euch hier zum Arzt gehen muß, sagt mir einfach Bescheid. Ich kann euch einen guten Tipp geben.“
„Ja, das ist gut zu wissen, Ellen. Aber, wie schon gesagt, das ist sicher nicht das Problem“, wehrte Chan erneut ab.
„Weißt du“, fuhr Ellen ungerührt fort, „wir haben inzwischen in der ganzen EU ein sehr modernes medizinisches Versorgungssystem. Von den hochmodernen und gut ausgestatteten Krankenhäusern will ich gar nicht reden, die braucht man ja Gott sei Dank sowieso nur wenig bis überhaupt nicht. Was man dagegen häufiger braucht, das sind die niedergelassenen Ärzte. Die haben zwar nach wie vor ihre freien Praxen, aber sie haben inzwischen fast überall interdisziplinäre Gemeinschaften gebildet, die sich in hervorragend ausgestatteten und gut organisierten Ärztehäusern lokal zusammengefunden haben – zum beiderseitigen Vorteil: Die Ärzte können die Infrastruktur und die medizinischen Geräte zumindest zum Teil gemeinsam nutzen. Und auch die administrativen Aufgaben lassen sich auf diese Weise partiell konzentrieren beziehungsweise zentralisieren, so daß der Verwaltungsaufwand für jeden einzelnen reduziert wird. Kurz: Die Ärzte sparen Zeit und Kosten. Die Patienten profitieren davon, daß sie praktisch alle Fachdisziplinen lokal konzentriert vorfinden und deshalb nicht mehr mit ihren Überweisungen ‚von Pontius zu Pilatus’ laufen müssen. Auf diese Weise können sich auch schnell mal zwei oder drei Ärzte direkt miteinander absprechen und einen Patienten gemeinsam, das heißt interdisziplinär, behandeln. Das ist sehr viel aufwand- und zeitsparender und vor allem behandlungseffizienter für den Patienten. Und selbst die Ärzte profitieren davon, weil sie bei diesen Behandlungen im Gespräch mit Kollegen anderer Fachdisziplinen über ihren eigenen ‚Tellerrand’ hinausgucken und auf diese Weise ihren Horizont erweitern können. Also, wieder eine win-win-situation.“
„Das hört sich sehr vernünftig an. Doch, muß ich sagen, Ellen.“
Ellen ließ sich durch diese Bemerkung von Chan in keiner Weise stören, als wenn sie sie gar nicht vernommen hätte, und parlierte munter weiter:
„Die Ärztehäuser sind in der Regel sehr verkehrsgünstig gelegen, was den ÖPNV betrifft, verfügen aber auch über genügend Parkmöglichkeiten für PKWs.
Im Erdgeschoß befinden sich üblicherweise eine Apotheke, ein Café, ein paar Läden sowie eine für alle Praxen im Haus zuständige Erst-Anlaufstelle zum Zwecke der Informationsauskunft und Anmeldung. Man kann dann nach der Anmeldung solange im Café sitzen und warten oder durch die Geschäfte gehen und Besorgungen machen, bis man aufgerufen wird. Man muß also nicht unbedingt im Wartezimmer sitzen. Wenn man zum ersten Mal hinkommt, wird man in der Regel erst einmal bei einem Arzt für Allgemeinmedizin eingeordnet, der die Erstdiagnose stellt und gegebenenfalls anschließend gleich weiter zum entsprechenden Facharzt im Hause überweist. Hat man dagegen einen zweiten oder weiteren Termin beim selben behandelnden Arzt, dann wird man sofort in die betreffende Warteliste eingereiht. Teilweise sind in diesen Ärztehäusern, zumindest in den gutgehenden, auch schon mal zwei Fachpraxen derselben Disziplin, so daß man ‚seinen’ Doktor auswählen kann. Auch sind dann die Wartezeiten nicht so groß.“
„Interessant, ja! Und sehr vernünftig.“
„Was ich auch sehr vernünftig finde, ist, daß jeder Patient auf seinem PACCS seine gesamte Krankenakte von Kindheit an gespeichert hat – alles verschlüsselt natürlich! Früher hätten die Datenschutzbeauftragten ‚Zeter und Mordio’ geschrien. Aber inzwischen sind die Datenschutzverfahren so sicher, daß man keine Befürchtungen wegen Datenklaus und -mißbrauchs mehr zu haben braucht. Und es ist ja ein Riesenvorteil, daß der Arzt die für die Anamnese notwendigen Daten des Patienten – dessen Einwilligung vorausgesetzt – auslesen und sich auf diese Weise unmittelbar einen schnellen Überblick über mögliche Vorerkrankungen oder Unverträglichkeiten verschaffen kann. Das befähigt ihn, eine fundiertere Diagnose zu stellen und eventuelle Allergien bei der Verschreibung von Medikamenten entsprechend zu berücksichtigen. Bei Abschluß der Behandlung werden die Diagnose und gegebenenfalls die durchgeführten Behandlungsmaßnahmen gemäß Leistungskatalog sowie die verordneten weiteren Maßnahmen auf den PACCS zurückgeschrieben.“