„Ja, das ist richtig. Da das ganze Schulsystem darauf ausgerichtet ist, die Schüler mit einem breiten Spektrum an Themen – Wissens-, Forschungs- und Arbeitsgebieten sowie Prozessen, Methoden und Tools – bekanntzumachen, Vielfalt zu zeigen, Interessen zu wecken, aber auch die Gelegenheit der Vertiefung potentieller Interessensgebiete zu ermöglichen und zu unterstützen, haben die Schüler nach dem Schulabschluß bereits eine relativ gute Vorstellung hinsichtlich ihrer beruflichen Ausrichtung und Perspektiven, so daß sie die berufsorientierte Ausbildung nahtlos anschließen können.“
„Und alles kostenlos! Das finde ich phänomenal! Bei uns in China müssen die Eltern noch selbst für die Kosten der Ausbildung aufkommen“, sagte Chan.
„Erst ab der Oberstufe!“ korrigierte Frau Li.
„Ja, richtig, erst ab der Oberstufe“, gab Chan zu. „Aber immerhin! Und das Mittagessen müssen sie bei uns auch selber zahlen.“
Frau Li warf ihr einen strengen Blick zu, äußerte sich aber nicht weiter dazu.
„Ja, das war auch hier ein langes, zähes Ringen“, sagte Ellen. „Aber letztlich hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese europäische Gemeinschaft ihren Bestand im harten Wettbewerb mit den bevölkerungs- und/oder rohstoffreichen Ländern nur behaupten kann, wenn sie zur geistigen Elite gehört, wenn sie bei Wissenschaften, Forschung und Technologien in der Champions League mitspielen kann. Und wenn du das erreichen willst, dann mußt du konsequenterweise die dafür notwendigen Voraussetzungen schaffen. Und eine gute Schulbildung ist nun mal die wichtigste Voraussetzung für jeden einzelnen, um den Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft gerecht zu werden und in diesem Wettbewerb zu bestehen. Deshalb wird die ganze Ausbildung bis zum Abitur aus Steuergeldern finanziert, also von allen Bürgern der Gemeinschaft, nicht nur von denjenigen, die noch bereit sind, für den Nachwuchs und damit für den Fortbestand der Gemeinschaft zu sorgen. Und deshalb haben wir auch hervorragend ausgestattete Kindergärten und Schulen, ein hervorragendes Bildungssystem und hervorragende Lehrkräfte. Alles hervorragend – anders könnten wir gar nicht bestehen.“
„Vernünftige Einstellung!“
„Und es gibt einen weiteren wichtigen Beweggrund dafür: Chancengleichheit! Denn nicht alle Eltern sind in der wirtschaftlich guten Lage, die Kosten für eine so umfassende Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen. Diese Kinder – und das sind gar nicht so wenige – würden klar benachteiligt. Das wollen wir nicht!“
„Sehr fürsorglich!“
„Ja, aber es ist nicht nur altruistisch gedacht, sondern auch ein wenig egoistisch – aus Sicht der Gesellschaft. Denn andernfalls ginge unserer Gesellschaft ein nicht unerhebliches Potential an Leistungsträgern verloren! Diese Situation hatten wir ja lange genug: nämlich massenweise schlecht bis gar nicht ausgebildete Jugendliche, die nichts leisteten, sondern im Gegenteil die Gesellschaft erheblich viel Geld kosteten. Das war eine lost-lost-situation: Diese Jugendlichen waren frustriert, denn sie empfanden sich als Loser ohne jede Zukunftsperspektive, und für die Gesellschaft waren sie nur eine Belastung, denn sie mußte beträchtliche Sozialhilfeleistungen für sie aufbringen und obendrein eine gesteigerte Kriminalitätsrate bekämpfen. Da ist das Geld doch besser so angelegt, wie wir das jetzt machen. Darauf hätte man übrigens schon viel früher kommen können!“
„Ja, natürlich, da hast du völlig recht! Die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen steigt zwangsläufig, wenn diese keine Perspektive für sich sehen, sich als Loser empfinden und deshalb frustriert sind. Dann machen sie die Gesellschaft für ihr Schicksal verantwortlich und reagieren ihre Wut an den gesellschaftlichen Institutionen, Einrichtungen und an ihren Bürgern ab.“
„Zweifellos! Deshalb ist es umso wichtiger, alle Mitglieder der Gesellschaft ‚mitzunehmen’ und gleichermaßen zu fördern. Aber wie gesagt: Irgendwann ist auch das Ende der Fahnenstange erreicht. Für die Finanzierung der berufsbezogenen Ausbildung, also für die Zeit nach dem Abi, muß jeder selber aufkommen. Sie sind dann erwachsen, haben eine tadellose Ausbildung und damit ein solides Fundament, um für sich selber zu sorgen.“
„Aber sie haben doch dann noch kein eigenes Einkommen und sind immer noch in der Ausbildung.“
„Doch, ja! Sie erhalten ja, wie schon erwähnt, von der AGV ein monatliches Grundeinkommen. Und wenn ihnen das tatsächlich nicht reichen sollte, dann darf man doch schließlich auch ein bißchen Unterstützung durch das Elternhaus erwarten, wenn die Gesellschaft schon für die Kosten der ersten 18 Jahre aufgekommen ist, oder? Bei Euch in China müssen sie ja sogar schon ab der zehnten Klasse Schulgeld zahlen, wie ich vorhin gehört habe.“
„Das habe ich gesagt, ja“, bestätigte Frau Li. „So ist es bei uns auch. Trotzdem würde mich interessieren, wie es hier diejenigen machen, die vom Elternhaus her nicht so gut ausgestattet sind?“ wollte Frau Li wissen.
„Normalerweise hat jeder Jugendliche eine Ausbildungsversicherung, die staatlicherseits bei der Geburt mit einem Startgeld initiiert und dann von den Eltern üblicherweise mit monatlichen Raten fortgeführt wird“, erwiderte Ellen. „Die angesparten Beträge können nach dem Abi abgerufen werden. Damit kann jeder Jugendliche seine Grundversorgung aufbessern und hat dann eine ziemlich üppige finanzielle Grundausstattung – je nachdem, ob und wieviel die Eltern über die Jahre angelegt haben. Wenn die Jugendlichen gut sind, oder wenn sie es geschickt anstellen, dann werden sie gesponsert, erhalten zum Beispiel ein Stipendium von einem Unternehmen, einer Institution, einem Förderverein oder einem wissenschaftlichen Institut. Und unabhängig davon kann man aber auch bei jeder Bank ein sehr günstiges Studiendarlehen erhalten. Das vergeben die Banken schon aus ganz eigennützigem Interesse, denn sie verbinden natürlich mit jedem dieser Darlehen die Hoffnung, diesen Darlehensnehmer auch später als Kunden zu behalten. Aber wie gesagt: Wenn sie nicht auf allzu großem Fuße leben, dann kommen sie allein mit der Grundversorgung, der AGV, ganz gut über die Runden.“
„Verstehe!“
„Naja, und außerdem haben viele Studenten nebenher irgendeinen Job, um sich noch etwas dazu zu verdienen. Und die Studentenbuden in den Uni-Camps sind ja auch sehr preiswert – wie übrigens auch die Mensa. Also, da hat bisher noch jeder sein Auskommen gefunden.“
„Das ist bei uns in China bis auf die Grundversorgung ganz ähnlich“, bestätigte Frau Li. Und noch ehe sie weitersprach, vernahm sie einen Klingelton. „Oh! Das könnte mein Mann sein“, sagte sie. „Dann muß ich mich jetzt leider verabschieden.“
Und da kam auch schon Robby ins Zimmer und führte Herrn Li herein. Frau Li machte ihn mit Ellen bekannt; Chan und er kannten sich ja bereits. Chan lud ihn ein, Platz zu nehmen. Aber er war in Eile, wollte nur seine Frau abholen. Sie hatten jetzt noch eine Verabredung in der Stadt. Frau Li bedankte sich bei der Verabschiedung für die freundliche Einladung und das sehr interessante Gespräch. Sie habe eine Reihe von Gemeinsamkeiten in den beiden Schulsystemen erkannt, aber auch einige Unterschiede. Und so nehme sie gerne einige wertvolle und interessante Anregungen mit nach Hause. Ja, und wenn Ellen tatsächlich mal nach Beijing kommen sollte, dann müsse sie sie unbedingt dort besuchen, sagte sie noch, bevor sie ging. Chan geleitete ihren Besuch noch bis zur Haustür, wo auch schon ein Taxi wartete. Als sie Herrn Li die Hand zum Abschied reichte, fragte sie ihn, ob es denn morgen bei der Verabredung bleibe.
„Ja, ja, selbstverständlich. Um 17.00 Uhr werde ich hier sein“, hatte er geantwortet, und Chan erwiderte: „Fein, mein Mann wird sich freuen.“ Dann winkte sie beiden nach, bis sie im Taxi verschwanden.
Nachdem sie abgefahren waren, kam Chan zurück ins Wohnzimmer zu Ellen.
„Du hast doch schon noch ein bißchen Zeit, Ellen?“ fragte Chan. „Wir müssen ja unser Gespräch, nur weil sie weg ist, nicht so abrupt abbrechen, oder?“
„Nein, nein! Kein Problem, es pressiert mir nicht.“
„Und? Was sagst du?“
„Ja, was soll ich sagen?