„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, bestätigte Chan, „daß es hier sehr viele Selbständige, Klein- und Mittelstandsunternehmen gibt.“
„Ich denke, das war eine zwangsläufige Entwicklung“, erklärte Ellen. „Seit die Automatisierung und Roboterisierung in der Industrie und vielen anderen Bereichen soweit fortgeschritten ist, sind immer mehr Arbeitsplätze für Menschen verlorengegangen, weil diese Tätigkeiten durch die leistungsfähigen Maschinen immer effektiver und effizienter, das heißt, immer schneller, präziser und kostengünstiger ausgeführt wurden, wo der Mensch einfach nicht mehr mithalten konnte. Daher mußten sich die Menschen notgedrungen umorientieren und sich auf Tätigkeitsfelder konzentrieren, die sich einer Automatisierung weitgehend entziehen. So sind beispielsweise in Produktionsbetrieben nur noch wenige Menschen beschäftigt, nämlich vorwiegend im Entwicklungsbereich, wo Kreativität gefragt ist. In der Produktion selbst sind nur noch sehr wenige Leute mit Kontroll- und Überwachungsfunktionen beschäftigt, das heißt, sie beaufsichtigen lediglich die Automaten und Roboter und greifen ein, wenn es Probleme gibt. Daneben gibt es natürlich, wie früher auch schon, freischaffende Handwerker, Ingenieure, Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte, Händler, Logistiker, Landschaftsgärtner und weiß der Teufel, was noch alles. Und vor allem gibt es jetzt in viel stärkerem Maße als früher Arbeitsplätze in Forschung und Lehre, in jeglicher Art von Service, Beratung, Unterhaltung, Physio- und Psychotherapie, Wellness, sowie jede Menge freischaffender Künstler und Kunsthandwerker.“
„Ja, du sagst es, Ellen! Das ist das eigentlich Schöne an unserer Zeit, daß wir uns heute nicht mehr wie Hamster im Laufrad tagein, tagaus abstrampeln müssen, um unser täglich Brot zu verdienen, wie unsere Vorfahren im Industriezeitalter, sondern daß wir einer selbstbestimmten Tätigkeit nachgehen können, die uns weniger Streß, dafür aber sehr viel mehr Motivation, Freiraum und Selbstzufriedenheit verschafft – und trotzdem unser Auskommen sicherstellt.“
„Richtig! Und abgesehen davon ist unser Lebensunterhalt ja heutzutage auch noch mit der ‚Allgemeinen Grundversorgung‘ (AGV) staatlicherseits einigermaßen abgesichert. Wenn es mit einem zusätzlichen Einkommen durch Arbeit mal nicht so klappt, dann müssen wir uns nicht gleich Sorgen machen. Genau das haben wir letztlich der Automatisierung und Roboterisierung zu verdanken – also auch deinem Mann mit seiner Roboterfirma“, sagte Ellen zu Chan. „Denn dadurch wird schließlich zu einem wesentlichen Anteil unser Bruttosozialprodukt erwirtschaftet.“
„Ja, schon. Aber was für mich von größerer Bedeutung ist, ist die Tatsache, daß heutzutage die ganzen stupiden Arbeiten von Automaten ausgeführt werden, daß die Menschen sich heute Aufgaben widmen können, zu denen sie früher gar keine Zeit oder Möglichkeit oder Muße hatten. Der Gewinn an Lebensqualität ist doch kolossal!“
Dem stimmte auch Frau Li ohne Zögern zu. Da waren sich alle einig.
„Um noch mal auf unsere Ausbildung zurückzukommen“, erklärte Ellen, „woran die Schüler ganz besonders interessiert sind, das ist die ‚Projektarbeit‘, wo sich jeweils mehrere Schüler in einer Gruppe zur Lösung einer bestimmten Aufgabenstellung zusammenfinden. Dafür sind regelmäßig feste Zeiten im Stundenplan vorgesehen, meistens nachmittags. Die Aufgabenstellung kann von einem Lehrer oder von den Schülern selbst vorgeschlagen werden, sie kann sich aber auch unmittelbar aus dem Unterrichtsstoff ergeben; sie kann fachspezifisch oder fächerübergreifend, theoretisch oder praktisch sein – da sind keine Grenzen gesetzt. Wenn so ein Thema ansteht, dann bilden die daran interessierten Schüler auf freiwilliger Basis eine Projektgruppe, die je nach Größe und Umfang der Aufgabenstellung mehr oder weniger Beteiligte umfaßt. Es kommt auch schon mal vor, daß sich zu viele für ein Thema interessieren, so daß die Projektgruppe für eine sinnvolle Bearbeitung zu groß würde. In so einem Fall lassen wir dann auch ruhig mal zwei Gruppen das gleiche Thema – gewissermaßen in Konkurrenz – erarbeiten, denn Konkurrenz gehört nun mal zu unserem Leben; und auch damit müssen die Schüler umzugehen lernen. Wir bringen ihnen dann richtig bei, so einen ‚Chinese Wall‘ – wie in der Industrie üblich – zu bilden, also keine projektspezifischen Informationen auszutauschen, solange das Projekt läuft. Und am Ende vergleichen und bewerten wir dann die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Ergebnisse. Das ist auch für die Schüler immer wieder sehr interessant zu sehen, daß man so ein Thema in verschiedener Weise angehen, und daß man auch zu ganz unterschiedlichen Lösungen kommen kann. Ja, wie gesagt, das Themenspektrum ist sehr breitgefächert und vielfältig: Da werden physikalische und chemische, biologische, mikrobiologische und sogar gentechnische Experimente gemacht, mathematische Untersuchungen durchgeführt, gesellschaftliche, soziale, philosophische, ethische Fragestellungen erörtert, da wird gebastelt und gewerkelt, da werden sogar Erfindungen gemacht. Bei vielen Projekten, insbesondere bei den älteren Jahrgängen, arbeiten die Schüler auch mit Firmen und wissenschaftlichen Einrichtungen zusammen. So bekommen sie frühzeitig Einblicke in solche Institutionen, erleben hautnah deren Aufgaben und Arbeitsweisen, erhalten jede Menge zusätzliche Anregungen und können durch Nutzung der dort gegebenen Möglichkeiten Experimente durchführen, die ihnen auf dem Schulgelände gar nicht eingeräumt werden könnten. Wir haben inzwischen Verbindungen zu sehr vielen Firmen und wissenschaftlichen Institutionen in der Umgebung, die sich sogar als Sponsoren betätigen, die uns Aufgabenstellungen und Projektbetreuer aus ihrem Bereich vermitteln und bei der Finanzierung unterstützen, denn nicht selten erarbeiten unsere Schüler auf diese Weise sehr nützliche Lösungen für deren Probleme. Etliche solcher Projektarbeiten bieten den Schülern sogar die Möglichkeit zu Auslandsaufenthalten, wo sie weitere, sehr wertvolle Erfahrungen sammeln können.“
„Ja, das ist sehr gut. Das halte ich für sehr wichtig, daß die frühzeitig mal rauskommen und was von der Welt sehen – das erweitert ihren Horizont kolossal“, bescheinigte Chan. „Aber auch mal abgesehen vom Auslandsaufenthalt – allein schon die Tatsache, daß die Jugendlichen nicht nur abgeschirmt in der Schule lernen, sondern mit den unterschiedlichsten Berufs- und Lebensbereichen der realen Welt außerhalb der Schule konfrontiert werden, dort Eigenverantwortung übernehmen müssen und dabei frühzeitig ihre Erfahrungen sammeln können, das wird ihr Selbstbewußtsein und ihre Leistungsfähigkeit stärken.“
„Genau!“ fuhr Ellen fort: „Das zählt für mich zu einem der wichtigsten Vorteile der Projektarbeit überhaupt, daß hier die Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Schüler gefordert und gefördert wird. Es gibt zwar für jedes Projekt einen Mentor, den sich die Gruppe aus dem Kreise der Lehrer oder auch Außenstehender selbst auswählen kann, aber der hat immer nur unterstützende, beratende Funktion. Die Projektgruppe muß sich völlig selbständig organisieren, muß die Aufgaben strukturieren und verteilen, die Lösung im Team erarbeiten, die Ergebnisse präsentieren. Sie muß sich aber auch selbst um die für die Durchführung notwendige Finanzierung kümmern, falls für die Aufgabenbearbeitung Geld benötigt wird. Auch wenn es sich dabei im allgemeinen um sehr begrenzte Mittel handelt, das Budget muß erst einmal akquiriert werden. Und es bleibt ihrem Einfallsreichtum und ihrer Überzeugungskraft überlassen, wo sie einen Sponsor finden. Und natürlich müssen sie auch lernen, mit dem gegebenen Budget auszukommen und entsprechend haushalterisch umzugehen. So lernen sie neben der fachlichen Thematik auch immer gleich die Planung von Projekten, die Zeit- und Kostenschätzung für die Durchführung sowie das Management und Controlling von Projekten, was sie später im Beruf notwendigerweise beherrschen sollten.“
„Das ist sehr wichtig, ja“, bestätigte Chan. „Aber auch die in der Teamarbeit erworbene Sozialkompetenz, die Motivation zum Lernen, das Interesse an geistig anspruchsvollen und fachübergreifenden Themen, das Entwickeln von Problemlösungsstrategien, der Wille zum Erfolg und die Überwindung von ‚Krisen’ oder Streitigkeiten – das sind ja alles äußerst wertvolle Erfahrungen, die ihnen in ihrem Leben noch sehr nützlich sein werden. Übrigens auch die Methodenkompetenz, die sie durch die Unterstützung ihres Mentors erfahren! Und, last but not least, werden sie auf diese Weise ja auch sehr frühzeitig auf ihren späteren Beruf hingeführt,