„Ihr habt doch gar keinen Zoo in Ulm!“
„Nein, jedenfalls keinen richtig großen, aber die machen dann einen Tagesausflug mit dem Bus oder der Bahn nach Stuttgart oder München.“
„Ist ja wirklich toll, was ihr für eure Kleinen alles tut!“ staunte Chan. „Ein richtig interessantes und abwechslungsreiches Programm – und alles kostenfrei. Wirklich toll!“
„Ja, das leisten wir uns für unseren Nachwuchs! Nicht umsonst haben wir seit geraumer Zeit ein so hohes Bildungsniveau!“
„Ein hohes Bildungsniveau haben wir in China auch, wie ich vorhin schon sagte“, entgegnete Frau Li.
„Allerdings“, wandte Chan ein, „ist das ganze System bei uns doch stärker ‚verschult‘, denke ich. Nicht so spielerisch, locker, lustig, was ich sehr schade finde. Aber die Kinder spüren bei uns von klein auf, daß sie selbst im eigenen Land eine riesige Konkurrenz haben und daß sie sich schon deshalb unheimlich ins Zeug legen müssen, um sich später behaupten zu können. Deshalb büffeln sie gnadenlos! Das ist natürlich sehr viel stressiger als du es gerade geschildert hast, aber im Endeffekt erreichen sie auch alle ein sehr hohes Bildungsniveau.“
„Das glaube ich, ja. Eine starke Konkurrenz ist natürlich auch eine sehr starke Motivation!“ bestätigte Ellen. „Aber ich bin sehr froh, daß man bei uns inzwischen einen sehr viel angenehmeren Weg zum Erfolg gefunden hat. Denn der ist erstens wirklich aus eigenem Antrieb motiviert, aber streßfrei für die Kinder, und zweitens sicher auch dauerhafter. Das glaube ich jedenfalls. Und das hast du ja im Grunde gerade selber bestätigt. Ob das mit dem Konkurrenzgedanken auf längere Sicht auch immer so funktioniert, da habe ich gewisse Bedenken.“
Frau Li zog die Stirn kraus, äußerte sich aber nicht dazu.
Mit Beginn des fünften Lebensjahres wechseln die Kinder in die Schule über, die in Halb-Jahrgangsstufen gegliedert ist. Man hatte nämlich früh der Tatsache Rechnung getragen, daß ein Altersunterschied von einem Jahr innerhalb einer Jahrgangsstufe gerade in der kindlichen Entwicklungszeit eigentlich zu groß ist, und deshalb eine halbjährliche Staffelung eingeführt. Feste Klassenverbände im herkömmlichen Sinne gibt es nicht mehr. Statt dessen wird in kleinen Gruppen von maximal 15 Schülern unterrichtet, die nach Leistung zusammengestellt werden. Dabei sind für jedes Unterrichtsfach üblicherweise drei Leistungsklassen abgestuften Schwierigkeitsgrades und unterschiedlich schnellen Vorgehens im Lernstoff definiert. Die Schüler werden je nach Leistung in dem betreffenden Fach in eine dieser Gruppen eingeteilt. Sie können demnach – und das ist sogar der Normalfall – in den verschiedenen Fächern jeweils in ganz unterschiedlichen Leistungsgruppen sein. Diese Zuordnung unterliegt der ständigen Kontrolle der jeweiligen Ausbilder und wird entsprechend dynamisch gehandhabt. So kann ein Schüler im Laufe seiner Schulzeit – je nach Leistung in dem jeweiligen Unterrichtsfach – mehrfach in höhere oder in niedrigere Leistungsklassen je Unterrichtsfach umgesetzt werden – auch unterjährig. Weil diese Umsetzungen zur alltäglichen, gewohnten Praxis gehören, werden sie von den Schülern auch nicht als besondere ‚Herausstellung‘ in der einen oder anderen Weise empfunden, also auch die ‚Rückstufung‘ in eine leistungsschwächere Gruppe wird nicht als Makel empfunden. Aber – und das ist der eigentliche Vorteil dieser Methode – der betreffende, ‚zurückgestufte‘ Schüler selbst bekommt die große Chance, in dieser Gruppe mit etwas geringeren Anforderungen und etwas langsamerem Vorgehen im Stoff besser mitzukommen, das heißt, besser zu lernen und wieder Erfolg zu haben. Umgekehrt profitiert die andere Gruppe davon, daß er sie beim zügigeren Vorgehen nicht mehr aufhält, dort also auch nicht mehr stört. Beide Seiten profitieren davon – eine klassische win-win-situation. Jeder wird seiner Leistungsfähigkeit entsprechend gefordert und gefördert, keiner fühlt sich über- oder unterfordert. Die persönlichen Stärken eines jeden Einzelnen kommen frühzeitig zur Geltung und können weiter gefördert werden, ohne daß dadurch die anderen Themen völlig vernachlässigt würden. Im Gegenteil, auch dort kann jeder seine Erfolge haben – eben auf niedrigerem Niveau. Und das ist ja völlig normal, niemand kann auf allen Gebieten gleich gut sein. Der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Schüler wird man durch die große Zahl gut aufeinander abgestimmter Kurse, die die erforderliche Leistungsbandbreite ganz abdecken, gerecht. Ein ‚Sitzenbleiben‘ gibt es jedenfalls nicht mehr, aber auch keine ‚Überflieger‘. Jeder Schüler macht nach zwölf Schuljahren ausnahmslos seinen Abschluß. Schüler, die auch im leistungsschwächsten Kurs noch Probleme haben, bekommen ‚Privatstunden‘, in denen ein Lehrer sich ihrer ganz persönlich annimmt, um intensiver auf ihre individuellen Schwierigkeiten eingehen und diese überwinden zu können. Es gibt aber auch eine Reihe von Fächern, die man abwählen kann. Denn warum sollte man die Schüler zu etwas zwingen, an dem sie partout kein Interesse und damit auch keine Lernbereitschaft zeigen? In ähnlicher Weise werden solche Schüler, die selbst im leistungsstärksten Kurs noch unterfordert scheinen, durch zusätzliche Aufgabenstellungen im Einzelunterricht individuell gefördert.
Fördern und fordern im richtig verstandenen Sinne – das ist das A und O für optimales und lebenslanges Lernen. Diese Erkenntnis ist endlich erfolgreich umgesetzt worden, fand Eingang in die moderne Lehrmethodik. Und deshalb ist Lernen heute kein passiver Vorgang in Form von ‚Einpauken‘ mehr, sondern das aktive und zum Teil interaktive Lösen von immer neuen Aufgabenstellungen mit Praxisbezug. Jeder Mensch braucht Leistungsanreize, braucht immer wieder neue Herausforderungen, an denen er sich messen kann. Denn mit jeder Aufgabe, die er erfolgreich bewältigt hat, wächst seine Persönlichkeit; läßt ihn sein Belohnungssystem im Gehirn Stolz empfinden. Es stärkt sein Selbstbewußtsein, weckt seine Neugier auf neue Aufgaben und regt seine Kreativität an.
Das ‚Benotungssystem‘ hat sich zwangsläufig auch geändert, weil zwar alle Schüler gleichermaßen für zwölf Jahre in der Schulausbildung sind, aber nicht alle die gleiche Stoffmenge in dieser Zeit bewältigt haben. Sechs Noten reichen da zur Differenzierung überhaupt nicht mehr aus, sind auch nicht aussagekräftig genug bezüglich der Stärken und Schwächen eines Schülers im einzelnen. Daher sind für jeden Kurs entsprechende Lernziele und die Erfüllungskriterien für das Erreichen dieser Ziele – mit bestimmten Abstufungen – genau definiert. Diesen Abstufungen entsprechend sind dann auch die Beurteilungsformulierungen verbal festgelegt. Ungeachtet dessen werden aber zusätzlich noch die herkömmlichen Noten in Klammern angegeben, weil sie gleich auf den ersten, flüchtigen Blick eine grobe, aber gewohnte Einordnung der Schülerleistung sowie deren Vergleich mit denen der Klassenkameraden ermöglichen. Die Schüler selbst vergleichen sich gern und permanent mit anderen, nicht nur ihre Leistungen, sondern auch ihre Vorstellungen und Ansichten, ihre Geschmäcker und Wünsche. Vergleich ist ein unabdingbarer Bestandteil unseres Lebens, also auch des Schülerlebens. Insofern war es richtig, nicht der verschiedentlich unter der Parole