„Ja, ich glaube auch, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen für die Einheit einer Nation beziehungsweise einer Gesellschaft generell entscheidend ist und deshalb unbedingt gefördert und gepflegt werden sollte! . . . Was heißt sollte? Gepflegt werden muß!“, durchbrach Ellen, noch ganz in Gedanken versunken, unvermittelt die Stille. Und obwohl ihr dieser Gedanke nicht grundsätzlich neu war, kam es ihr in diesem Moment doch so vor, als hätte sie gerade eine ganz neue Erkenntnis gewonnen. Und – dachte sie sich – ich sollte mich dringend bemühen, solche Fragen oder Aussagen zu vermeiden, die auf diese Frau Li irgendwie provokativ wirken können.
Frau Li lächelte freundlich. Und auch Chan sah sie lächelnd an, während sie zu ihr sagte: „Vielleicht erzählst du jetzt mal etwas über euer Ausbildungssystem, Ellen?“
„Selbstverständlich, ja gern“, stimmte Ellen spontan zu. „Ich habe Sie ja wirklich lange genug gepeinigt mit meinen Fragen“, sagte sie Frau Li zugewandt.
„Ja, unser Schulsystem – und ich beschränke mich jetzt mal auf das staatliche System; die unterschiedlichen Privatschulen, die es auch noch gibt, lasse ich zunächst mal außer acht – ist im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr verbessert worden“, begann Ellen zu erzählen. „Wir hatten in Deutschland ja mal ein dreigliedriges Schulsystem, wie Sie wahrscheinlich wissen. Das ist Vergangenheit. Statt dessen gibt es – inzwischen europaweit! – nur noch ein einheitliches Ausbildungssystem mit gleichen Lehrplänen und Prüfungsverfahren – allerdings mit verschiedenen Leistungsstufen. Irgendwie müssen wir ja auch differenzieren, aber darauf komme ich später noch zurück. Die herkömmlichen Lehrpläne und -methoden wurden gründlich überarbeitet und an die heutigen Erfordernisse angepaßt. Der früher übliche Frontalunterricht ist weitgehend ersetzt durch interaktives Erarbeiten von Lösungen für interessante, lebensnahe Aufgabenstellungen. Die Lehrer können sich jedem einzelnen Schüler sehr viel intensiver widmen als früher, weil auch die Klassen sehr viel kleiner sind, und nicht zuletzt dadurch haben die Schüler jetzt eine hohe Motivation zum Lernen.
Sehr positiv wurde auch der bi-linguale Unterricht angenommen, das heißt, alle Fächer werden von der ersten bis zur letzten Klasse simultan in Englisch und der jeweiligen Landessprache unterrichtet, so daß man ohne Probleme von Polen nach Spanien oder von Finnland nach Griechenland ziehen kann. Denn Englisch versteht ja jeder, und als Ausländer kriegt man von der jeweiligen Landessprache auch gleich noch etwas mit. Daneben kann man selbstverständlich noch jede andere Sprache auf freiwilliger Basis in separatem Unterricht erlernen.“
Das europäische Schulsystem war in der Tat zu einem der besten der Welt geworden. Man konnte das schon rein äußerlich an der vorbildlichen Ausstattung der verschiedenen Ausbildungsanstalten, an dem breiten Spektrum des angebotenen Lernstoffs wie auch an der Zahl der Lehrkräfte erkennen. Aber das eigentlich Entscheidende war die Qualität der Ausbildung; die hatte sich gegenüber früheren Jahren dramatisch verbessert. Erziehung und Ausbildung waren endlich konsequent als allgemeine gesellschaftliche Verpflichtung und Aufgabe im Sinne der Zukunftssicherung dieser Gesellschaft wahrgenommen, und dieser hatten sich alle Mitglieder der Gesellschaft unterzuordnen. Und sie taten es gern, denn es brachte für alle nur Vorteile – für die Kinder, für die Eltern, für die Ausbilder, für die Arbeitgeber und für die Gesellschaft insgesamt.
Obwohl das neue Ausbildungssystem vom Eintritt in den Kindergarten bis zum Abschluß der Schule für jedes Kind kostenfrei war, hatte es bei dessen Einführung zunächst nicht unerhebliche Bedenken gegeben, die von verschiedenen Seiten geäußert worden waren. Deshalb hatte man sich darauf verständigt, vor einer flächendeckenden Einführung erst einmal einige, in verschiedenen Städten parallellaufende Pilotprojekte auf freiwilliger Basis zu starten, um damit Erfahrungen zu sammeln. Die Resonanz bei den Eltern war – für die Kritiker sehr überraschend – erstaunlich groß, denn es wurden viel mehr Kinder angemeldet als die Pilotprojekte aufnehmen konnten. Und das Vertrauen dieser Eltern in das neue System hat sich für sie ausgezahlt, denn es zeichnete sich schon nach der halben Durchlaufzeit des ersten Jahrganges ab, daß dieses Modell sehr erfolgversprechend war.
Dieses neue Modell berücksichtigte nun endlich, was man schon lange wußte, aber bis dato nicht umgesetzt hatte: Je früher die Kinder mit dem Lernen beginnen, desto besser, denn in den ersten Jahren haben sie die größte Aufnahmekapazität, lernen am schnellsten, und um so größer ist bei ihnen noch die synaptische Plastizität, das heißt, die Fähigkeit ihrer Nervenzellen, untereinander neue Verknüpfungen zu bilden. Folgerichtig ‚greift‘ dieses System bereits sehr früh: Mit Beginn des dritten Lebensjahres kommen alle Kinder in den Kindergarten. Dort wird nicht nur gespielt, sondern auch schon – spielerisch – gelernt und die Kreativität angeregt. Es ist eigentlich – in der Begriffswelt früherer Generationen – eine Kombination aus Kindergarten und Vorschule, und es soll durch eine kontinuierliche Schwerpunktverlagerung von spielerischen Anteilen zu Lerneinheiten einen möglichst fließenden Übergang zur Schule schaffen. In dieser Zeit sollen die Kinder bereits gelernt haben, sich muttersprachlich schon recht gut auszudrücken, einigermaßen zu lesen, zu schreiben und einfache Aufgaben zu lösen. Außerdem haben sie bereits Grundkenntnisse in der englischen Sprache erworben. Unabhängig davon entwickeln sie hier ganz beiläufig ein Gemeinschaftsgefühl und legen den Grundstock für ihre soziale Kompetenz.
„Ich weiß ja nicht, wie bei Euch in China die Kindergärten sind“, begann Ellen Eppelmann sich in fast schwärmerischer Weise über die hiesigen Kindergärten auszulassen, „aber bei uns hier sind diese Einrichtungen einfach phantastisch! Leider gab´s das in meiner Kindheit noch nicht in der Weise. Deshalb könnte ich richtig neidisch werden, wenn ich sehe, was die heutzutage dort schon mit den Kindern alles machen!“
„Erzähl’ doch mal!“ bat Chan. „Wir haben ja hier diese Erfahrung gar nicht machen können, weil unsere Kinder bereits aus dem Kindergartenalter raus waren, als wir hierher übersiedelten. Und Frau Li wird es sicher auch sehr interessieren.“
„Ja, natürlich! Das interessiert mich sehr“, pflichtete Frau Li ihr bei und sah Ellen erwartungsvoll an.
„Naja. Also, zunächst mal sind die Kinder dort den ganzen Tag über, genau gesagt von acht bis 16 Uhr, bestens aufgehoben, behütet und versorgt. Sie sind in kleine Gruppen von maximal zehn Kindern eingeteilt, so daß sich deren Betreuerinnen sehr viel intensiver als in früheren Zeiten um jedes einzelne Kind kümmern können, denn damals waren die Gruppen häufig dreimal so groß. Und diese Betreuerinnen sind alle bestens ausgebildet in Pädagogik, in Kinderpsychologie und weiß der Teufel, was noch alles. Jedenfalls haben die alle einen Hochschulabschluß. Da gibt´s ´ne eigene Fachrichtung für. Naja, was mich aber vor allem begeistert, ist die Tatsache, wie die mit den Kindern umgehen und wie die denen schon unglaublich vieles beibringen.“
„Ja, jetzt erzähl’ schon! Du machst einen ja wirklich ganz neugierig“, fuhr Chan ungeduldig dazwischen.
„Ja,