Jenseits der Augenlider. Marc Dorpema. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Dorpema
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847669265
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nach links, als bestünde sein Nacken aus Wachs, um das Zeichen Raspirons nicht zu verpassen. Er fühlte sich, als beobachte er seinen nassen, zitternden Körper durch die Augen eines Anderen. Morpheus selber konnte den Meister nicht sehen, doch Rendal hing sich an einer der acht Ecken des Turmes und spähte auf die andere Seite.

      Morpheus' junger Freund starrte ihn plötzlich an. Er hatte keine Tränen im Gesicht und Morpheus hoffte innig, dass sie lediglich vom Regen weggespült worden waren, dass sie sich in seiner Nässe versteckten. Womöglich hatte sein Partner den Tod noch nicht verarbeitet. Schließlich lastete ein gewaltiger Druck auf ihren Schultern, welcher den Schock möglicherweise unterdrückte.

      „Es geht los.“ flüsterte Rendal kalt.

      Gebraucht hätte er es allerdings nicht, denn die Stimme des Meisters würde selbst an der Westküste widerhallen.

      Der Hohn des Schicksals. Vor wenigen Augenblicken hatte er seinen Freund verloren und nun musste er unschuldigen Wesen dasselbe Leid zufügen. Es half alles nichts; er ergriff das Fensterbrett. Ein letzter, flüchtiger Blick in die Tiefe zeigte ihm, dass eine Gruppe Soldaten Claudius fort trug. Er zog sich explosionsartig hoch und sprang in den übervölkerten Raum.

      Durch jedes einzelne Fenster kletterten seine Brüder, als der grauenhafteste Teil der Mission begann; für Morpheus' Verstand sinnloses Abschlachten. Nagender Zweifel keimte in ihm auf. Doch er konnte nichts dagegen unternehmen, es war zu spät. Er lenkte seine Konzentration auf das, was die Magister ihm beigebracht hatten. Den Tunnelblick. Seinen Kopf zu leeren, während er tötete. Nicht zu denken, sondern zu schlagen, zu stechen, zu parieren. Wieder und wieder. Glücklicherweise trug er eine Kapuze, denn sonst wäre der Tränenschleier auf seinem Gesicht für jedermann sichtbar.

      Ein rascher Blick zeigte ihm, dass sich lediglich eine äußerst ausgedünnte Schar von etwa zwölf Zwergen verzweifelt gegen die Übermacht wehrte. Sie hatten sich Rücken an Rücken in einem Kreis aufgestellt und rotierten, ihre Waffen im Anschlag und furios knurrend in einem rasenden – doch nicht unüberlegt wirkenden – Tempo um ihre eigene Achse. Trotz der Unterzahl würden sie nicht aufgeben, das stand fest. Mit grimmiger Entschlossenheit würden sie bis zum Ende gefährliche Gegner bleiben.

      Nach einigen weiteren Umdrehungen jedoch, während welcher die Mischung aus Schweiß und greifbarer Angst eine intensive Atmosphäre gebaren, begangen die Verteidiger einen groben Fehler. Im Glauben, die Konzentration ihrer teils jungen Angreifer lasse trotz der Adrenalinschübe nach, fächerten sie aus, stürmten auf die milde überraschten Klanglosen Klingen zu. Morpheus – der Hauptmann Raspiron, welcher einem jungen, verängstigt aussehendem Zwerg der geradewegs auf ihn zuraste, sein langes Rapier durch die ungeschützte Stelle an der Kehle stieß – als einen lebenden Schild verwendete, wandte seinen Blick ab. Der Zwerg ging sofort mit einem unbehaglichen Gurgeln zu Boden. Bestialische Schreie hallten vereinzelt durch die prachtvolle Halle, in der einige ihrer Erbauer nun den roten Boden säumten.

      Erneut fragte Morpheus sich, warum er dieses Leid ertragen musste. Die Szenen nisteten sich in seinem Gedächtnis ein, um abstoßende Eier zu legen. Schon jetzt konnte er in einigen Nächten keinen Schlaf finden, weil die erschlaffenden Grimassen seiner Opfer sich wie eine Wand vor ihm aufbauten. Gewiss besaßen die meisten eine Familie. Doch er musste es tun, sein Vater zwang ihn dazu, dies war sein Weg. Er war selbst einmal ein bedeutender Kommandant gewesen und nun erwartete Eteís dasselbe von seinem Nachkommen.

      Schlagartig fiel ihm ein, wozu sie diese Last auf sich genommen hatten. Er blickte sich um und hielt nach dem Zwerg von den Zeichnungen Ausschau. In diesem Moment traf ihn ein mächtiger Schlag am Hinterkopf. Morpheus wurde von den Beinen gerissen und krachte in den gepanzerten Rücken Raspirons. Benommen blieb er liegen, während schemenhafte Schatten vor seinen Augen vorbeihuschten. Er verstand nicht mehr. Alles wurde schwarz, er fühlte nicht mehr, er schwebte.

      VIII

      Mit schreckensweitem Blick stand Garandor vom kalten, steinigen Boden auf. Vernebelt drehte er sich im Kreis. Sein Geist vermochte es nicht, das Geschehene zu verarbeiten. Während des Wettbewerbes, kurz vor seinem Sieg, waren in Weiß gehüllte Mönche durch die Fenster geklettert. Sie hatten alle niedergestochen, die nicht rasch genug aus dem Festsaal entkommen waren und verschwanden nach dem schweigsamen Massaker auf demselben Weg, auf welchem sie eingedrungen waren.

      Benommen taumelte Garandor durch das Leichenfeld. Weshalb war er noch am Leben? Plötzlich packte eine eiserne Hand ihn an der Schulter und er fuhr erschrocken herum. Es war die Hand des Königs.

      „Garandor. Berichte mir von den Geschehnissen. Garandor, verstehst du mich?“

      Die gewohnte Ruhe und Festigkeit des Königs musste in seiner Eile verloren gegangen sein. Der Steinmetz nickte. Doch antworten konnte er nicht; seine Stimme bestand aus Glassplittern.

      „Bringt einen Heiler. Rasch.“ Der König rief mit aller Kraft, doch kein zwergisches Donnern, sondern ein Schrei der mit beinahe menschlicher Verzweiflung zitterte, flog von seinen Lippen. Seine Stimme überschlug sich mehrfach. Garandor verstand nicht, weshalb der König sich um ihn sorgte. Er war bloß ein einfacher Steinmetz. Womöglich war er der einzige Überlebende. Balira.

      „Balira! Wo – „ Die Welt vor ihm verschwand in einem bunten Schleier. Er hörte die Stimme des Königs rufen. Und alles nahm ein Ende.

      IX

      „Ich bringe frohe Kunde, Dante. König Eldanas möchte dich in seiner Ehrengarde und Leibwache sehen. Er hat von deinen außerordentlichen Fähigkeiten erfahren, wie es scheint. Es ist dir gestattet, mitzunehmen so viel du möchtest, denn wie alle Streiter seiner Garde beziehst du ein eigenes Quartier in der Burg. Deine Leistung verleiht deinem Namen Flügel, Dante.“ Der Elf lächelte nicht.

      Dantes leuchtende Augen genügten als Antwort. Für ihn war soeben ein Traum in Erfüllung gegangen. Seitdem er als kleiner Junge schreiend und mit einem mickrigen Holzschwert bewaffnet, durch die Gassen seiner Heimat gerannt war, hatte er darauf gehofft, eines Tages in die Garde König Eldanas‘ aufgenommen zu werden. Und nun brach eine neue Zeit an; ein neues Leben.

      Die königliche Garde bestand aus etwa dreihundert hervorragenden Fechtern, die sich Tag und Nacht um die Sicherheit des Königs sorgten. Jeder in der Garde gelangte zu Reichtum und Ehre. Sie waren anerkannte Leute. Sein Vater wäre mit Sicherheit stolz auf ihn, schließlich würde sein Sohn bald zu den bekanntesten Kriegern der Menschen gehören. Dante konnte sein Glück kaum fassen.

      „Wann kann ich abreisen?“ Seine Stimme vibrierte vor Erwartung. Es war ein langer Weg nach Mentél. Doch durch solche Banalitäten konnte er sich nicht aufhalten lassen.

      „Sobald du möchtest. Es steht dir frei zu gehen, sobald du Abschied genommen hast, Dante. Ich nehme an, du wirst uns Morgen verlassen.“ Es wirkte, als hätte ein winziges Fünkchen Trauer sich in die Stimme des Elfen verirrt.

      „Ich werde im frühen Morgengrauen aufbrechen. Ich verabschiede mich sogleich von meinen Freunden.“ glühte Dante.

      „Sehr wohl.“ Solúnis stieß dies mit geheuchelt-wirkendem Trübsal hervor, welche den jungen Menschenkrieger jedoch zu Zweifeln führte. Er hatte in der Vergangenheit eine solche Kälte ausgestrahlt, dass der Gedanke ihm schlichtweg abwegig vorkam. Die Situation erwies sich als Dilemma. Er konnte sich als ein leichtes Opfer scharfer Abweisung darstellen, indem er seinen Lehrer fragte, ob alles in Ordnung sei, oder sich für die Ratschläge und Hilfe bedanken und sich aus dem Staub machen. Er rang nach einer Antwort. Schließlich wagte er es doch, zu fragen.

      „Solúnis. Du – “

      Doch in diesem Augenblick stürmte ein wuseliger Junge auf den Elfen zu, um ihm eine kerzengelbe Schriftrolle in die Hand zu drücken. Mit einem knappen Nicken bedeutete Solúnis dem Kind sich zurückzuziehen und begann damit, sich dem Geschriebenen zu widmen. Die Pupillen des Elfen schienen unsicher, ob sie ängstlich zucken, oder vor Freude galoppieren sollten.

      „Ich habe soeben erfahren,