XIII
Er schwebte.
Der verschwommene Boden unter ihm schwankte gefährlich hin und her. Anscheinend hatte sein Träger es äußerst eilig, denn die schwungvollen Bewegungen ließen ein leichtes Gefühl der Übelkeit in Morpheus aufsteigen.
Noch konnte er nicht klar erkennen, was um ihn herum vorging. Seine Sinne hatten erst damit begonnen, sich in seinen lahmen Körper zurückzuschleichen. Sein müder Geist versuchte desperat die fatalen Geschehnisse vor seinem unfreiwilligen Schlaf zu rekapitulieren.
Eine Mission – eine sinnfreie Mission – hatte ihn und die Klanglosen Klingen in den Turm der zwergischen Festung gebracht und während dem Aufstieg – seine Gedanken wurden von einem lauten Schlucken unterbrochen. Während dem Aufstieg hatte der Tod Claudius mit Hilfe des Wetters ausgelesen. Wissenslücken unterbrachen die darauffolgenden Momente. Er konnte jedoch nicht lange bewusstlos gewesen sein, denn dem Hecheln seines Trägers nach zu urteilen, befanden sie sich immer noch auf der Flucht aus dem Turm.
Da Morpheus‘ Sehkraft allmählich wiederkehrte, erkannte er die gigantische Schar Krieger die sich an der Verfolgungsjagd beteiligte. Viel weiter würde sein unbekannter Träger ihn nicht mehr mitschleppen können. Morpheus strampelte heftig mit Armen und Beinen, um zu signalisieren, dass er sein Bewusstsein zurückerlangt hatte und nicht länger wie ein Neugeborenes in den Armen seines Vaters gewiegt werden musste.
„Morpheus, halt still. Du siehst doch, wie knapp das hier ist.“ Hauptmann Raspirons Stimme zischte flach und gehetzt.
Morpheus konnte sich nicht vorstellen, dass sein Anführer ihn aus dem Turm getragen hatte, doch darüber sollte er sich später den Kopf zermartern.
„Morpheus!“ schrie der Hauptmann gegen den tosenden Lärm der Stahlrüstungen ihrer Verfolger an. „Kannst du laufen?“
„Lass mich los, Raspiron. Ich werde es schaffen.“ Leichte Panik erhöhte die Stimme des jungen Kriegers.
„Es liegt noch ein ganzes Stück vor uns.“ Erschöpftes Schnaufen.
„Ich schaffe das. Werfe mich nach vorne und lauf weiter. . . Raspiron!“ brüllte Morpheus gegen den ohrenbetäubenden Lärm an.
„Ich lasse dich in fünfzehn Herzschlägen los. Halte dich bereit; das könnte verdammt knapp werden.“ Überspielte Besorgnis.
Er sah, wie die Gerüsteten stets rascher zu ihnen aufschlossen. Nicht mehr lange und Raspiron und Morpheus würden eingeholt werden.
Verängstigte Gesichter und farbenfrohe Marktstände zogen an ihnen vorbei. Urplötzlich – Morpheus hatte das Zählen in der Aufregung vergessen – ließ der Hauptmann ihn mit einem leichten Wurf nach vorne los und lief nun wesentlich flinker weiter.
Morpheus rollte sich ab, um den Aufprall abzufangen und war binnen weniger Herzschläge wieder auf den Beinen. Dieses Manöver hatte jedoch Zeit gekostet und er befand sich nur wenige Schritte vor seinen fluchenden Verfolgern. Er spürte die wütenden Schreie der Soldaten auf seinem Nacken. Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Zwergen, welchen er, trotz ihrer rasenden Wut, mit Leichtigkeit davonlaufen konnte; der Rest setzte sich aus Menschen zusammen. Morpheus musste sich auf der Stelle etwas Hilfreiches einfallen lassen.
Ohne darüber nachzudenken, bog die junge Klanglose Klinge in eine schmale Gasse ein, in welcher seine Chancen die Verfolger loszuwerden, besser standen. Doch bevor er sich versah, tat sich eine hohe, hölzerne Wand direkt vor seiner schnaufenden Nase auf. Verflucht!
Morpheus sah, dass ihm nur noch eine Möglichkeit blieb. Wenn die Wand genügend Rillen besaß und grob gefertigt war, könnte er hinauf klettern. Auf dem engen Gewirr der Hausdächer befände er sich in relativer Sicherheit. Die Gardisten mit ihren schweren Rüstungen würden ihn nicht einholen können.
Er erreichte die hohe Mauer und suchte fieberhaft nach Spalten, die ihm als Kletterhilfe dienen konnten. Nach wenigen Augenblicken, hatte er einige relativ sichere Griffe gefunden und begann damit, sich schnellst möglich in die Höhe zu ziehen. Gerade rechtzeitig, denn seine Verfolger schlossen bereits zu ihm auf.
Oben angekommen, balancierte er rasch über die dünne Holzwand und sprang auf das linke Hausdach. Der Trupp hatte sich umgehend auf die Suche nach einem alternativen Weg in die Wipfel der Stadt gemacht, doch bis ihnen dies gelang, würde Morpheus über alle Berge sein.
Der Rest der Route erwies sich als Spaziergang. Nach wenigen, waghalsigen Sprüngen und zufällig-wirkenden Haken, erreichte er das Lager der Klanglosen Klingen. Da der junge Krieger das Bewusstsein verloren hatte, als sie sich noch im Turm befanden, war er im Dunkeln darüber, wie viele seiner Brüder nicht wiedergekehrt waren.
Mit einer unterschwelligen Angst betrat er den Unterschlupf, welcher sich inmitten der dicht bevölkerten Stadt befand, und erwartete das Schlimmste. Die tastende Ruhe des Gemeinschaftsraumes, gepaart mit der zuckenden Dunkelheit, schürten seine Furcht. Etwas Weiches berührte ihn am Fuß; ein Zischen erklang aus derselben Richtung. Im nächsten Augenblick hatte ein Schatten ihm seine glänzende Klinge an den weichen Hals gepresst.
„Dein Name.“ Verlangte eine passende Stimme ruhig.
„Morpheus. Ich bin Morpheus; lass mich los.“
Der Griff um seine Arme lockerte sich, die Klinge verschwand in der Dunkelheit. Vorhänge wurden von den Fenstern gerissen und zu Morpheus erstaunen stellte er fest, dass beinahe alle überlebt hatten. Einige freundliche Begrüßungen später, legte er sich auf den Boden, mit dem Gesicht zur Wand. Er spürte das Verlangen, sich mit jemandem über die Ereignisse zu unterhalten, doch Claudius war fort.
Gedankenverloren streichelte er die feinen Linien, die sich wie ein Labyrinth über seinen Unterarm zogen.
XIV
Lannus wandte sich unruhig im Schlaf, stöhnte leise. Alpträume plagten ihn in letzter Zeit stets häufiger, doch er konnte sich nicht vorstellen, woher seine Unruhe rührte. Urplötzlich fuhr er hoch, während ein Reflex ihn seinen Dolch zücken ließ. Nichts. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag.
In seiner nobel eingerichteten Kammer erkannte er keine Abnormitäten. Da er seinem Zeitgefühl nicht traute, lief der junge Dieb zum Fenster und zog die schweren, seidenen Vorhänge zurück. Es musste etwa Mittag sein, denn die Sonne stand so hoch am Firmament, dass sie kaum zu sehen war. Gähnend kleidete sich Lannus in sein ultramarinblaues Gewand. Die ganze Situation kam ihm unheimlich fremd vor. Er kannte keinen der Gegenstände im Raum, besaß keine emotionale Verbindung zu auch nur einem der Objekte. Bevor er sich hierher verlaufen hatte, trug er seine wichtigsten Gegenstände, welche er nach der Zeremonie der vier Augen hatte ablegen müssen, stets bei sich am Leib.
Sein Leben hatte demnach eine Wendung zum Besseren vollzogen. Es würde nicht lange dauern, bis er Erinnerungen mit dieser Kammer verband. Seit einer Woche lebte er nun in der Villa des Zirkels und war davon überzeugt, dass diese die sorgenfreiste seines relativ kurzen Lebens gewesen war.
Nachdem Lannus sich vollständig angekleidet hatte, begab er sich auf den Weg in den gemeinschaftlichen Speisesaal, in einer der prächtigen Hallen im Untergeschoss des Palastes. Es war bereits spät für ein Frühstück, weswegen der Saal – bis auf vier oder fünf seiner neuen Mitstreiter niedrigen Ranges – verlassen war.
Lannus nahm sich etwas Obst und setzte sich an einen einsamen Tisch in die Ecke. Er wurde von keinem besonderen Hunger geplagt und hatte seine Mahlzeit rasch verspeist. Nach seinem verspäteten Frühstück machte er sich auf den Weg in den Garten, um dort an den wichtigen Übungsstunden des Zirkels teilzunehmen, in welchen man essenzielles Wissen über die Kunst des Stehlens und Fechtens erlangte.
Er trat durch ein Tor in den Garten und schritt hypnotisiert, die Pracht der unterschiedlichen