Jenseits der Augenlider. Marc Dorpema. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Dorpema
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847669265
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der Anführer und musste furchtbar alt sein. Tiefe Falten gruben Krater um seine Augen und seinen Mund; ein langer, grauer Bart hing von seinem Kinn herab. Bei Lannus‘ Anblick breiteten sich die Furchen bis zur Stirn des blassen Greises aus. Beinahe ein Dutzend Augenpaare richteten sich auf Lannus, als sei er ein fremdes Geschöpf, emporgestiegen aus dem Meer. Lannus‘ Wangen röteten sich. Mit Ausnahme einer der Frauen vermutete der Dieb, dass er die wenigsten Zyklen erlebt hatte.

      Lannus zwang sich zur Ruhe.

      „Ich möchte keine Bewegung sehen.“ Sein Begleiter wanderte zum Anführer und begann, ihm etwas ins Ohr zu flüstern, doch er sprach zu leise, als dass Lannus die Botschaft hätte mitbekommen können. Nach einigen Augenblicken entfernte sich der Flüsterer vom Ohr. Der graue Mann schien kurz zu grübeln, bevor seine Worte Lannus entgegenbrausten.

      „Erzähl mir ein wenig von dir.“ Seine Stimme war kräftiger als Lannus vermutet hatte und verdeutlichte, dass man sich vor diesen Menschen in Acht nehmen sollte.

      „Das ist nicht von Belang.“ antwortete Lannus, urplötzlich gereizt, entsetzt von seiner eigenen, respektlosen Antwort. „Ich weiß nicht einmal, wer ihr seid, oder wo ich bin.“ fuhr in einer ängstlichen, ruhigen Stimme fort.

      „Wir, Lannus, sind die Streiter des Zirkels der schwarzen Serafim. Mein Name ist Teranon. Ich bin der Anführer dieses Zirkels. Wir wissen, dass unser Handeln nicht ruhmreich scheint. Wir sind Diebe, Räuber. Man könnte behaupten, wir seien gierig und unser Handeln sei schändlich, doch wir nehmen uns bloß zurück, was die reichen Adeligen dieser Stadt unseren Vorfahren nahmen. Unsere Familien wurden ausgebeutet und nun rächen wir uns.“ Das Gewicht des Schmerzes schien sich an der Stimme festzuklammern.

      „Ich begreife euer Leid, doch bin ich kein Teil von euch.“ Lannus verstand nicht, wie ihm geschah. Er hatte sich verlaufen und nun unterhielt er sich mit einem Fremden, der seinen Namen kannte.

      „Du musst dem Zirkel nicht beitreten, wenn du nicht möchtest. Allerdings bietet er dir äußerst verlockende Vorteile wie Schutz, Reichtum oder Kontakte. Treffe deine Wahl mit Bedacht. Du kannst es hier zu größerem Ruhm bringen als auf der Straße. Ich weiß, dass du ein Räuber bist, Lannus. Ich kenne alle Diebe dieser Stadt.“

      Ohne eine Antwort abzuwarten, stand der Greis auf und eilte schnellen Schrittes zu der Statue des mit Ruß überzogenen Seraphen und stellte sich direkt vor sie, bevor er beschwörend die Hände erhob. Teranons Lippen spielten kaum merklich mit undeutbaren Worten, während seine Augenlider sich schlossen. Auf einmal bewegte die Statue ihren linken Arm, dann den Rechten. Sie packte sich mit beiden Flügeln an den Bauch und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Der Kopf des Seraphen senkte sich, als blicke er auf eine Wunde an seinem Magen. Die Hände öffneten eine verborgene Klappe, welche die scheinbaren Innereien der Statue offenlegte.

      Entsetzt wohnte Lannus dem Schauspiel bei. Ein plötzlicher Lichtstrahl stach gleich tausend Dolchen nach seinem Antlitz. Seine Hand fuhr ruckartig vor die geblendeten Augen, um sie vor der Erblindung zu bewahren. Der entsetzliche, gleißende Schein ließ nach wenigen Momenten wieder nach und der Schmerz verging.

      Behutsam entfernte Lannus die Arme von seinem Gesicht. Im Inneren des Seraphen war ein Hebel zum Vorschein gekommen. Teranon betätigte ihn mit Macht. Schwerfällig bewegte er sich in Richtung des Oberhauptes. Mit einem leisen Klicken rastete er schließlich ein.

      Der alte Zirkelmeister trat einen Schritt zurück und wartete spannungsvoll. Nur einen Augenblick später tat der Seraph einen Schritt nach links und stand unverzüglich wieder still. Teranon musste ein bewanderter Zauberer sein, denn die Tür auf welche er nun zuschritt, besaß kein Schloss. Stattdessen zierten fremde Symbole und Zeichen ihre Oberfläche.

      Der gesamte Saal bebte, als Teranon unverständliche Worte rief. Lannus fürchtete, dass die gläserne Kuppel ihn unter einem Hagel aus Splittern begraben würde, doch als er sah, wie gelassen die Anderen blieben, entspannten seine Muskeln sich ein wenig.

      Mit einem grausamen Rattern fügte das Tor sich Teranons Willen und gab den Blick auf einen pechschwarzen Gang frei, in welchem er seine Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Der Zirkelmeister schien gedämpft zu fluchen, doch plötzlich erhellte sich der Gang, obgleich Lannus keine Fackel entdecken konnte.

      „Wenn du mir nun folgst, Lannus, wirst du in die Geheimnisse unseres Zirkels eingeweiht. Wenn du sie kennst, musst du uns beitreten. Überlege es dir gut.“ Seinen letzten Worten verlieh der bejahrte Mann mit der bodenlangen, nachtschwarzen Robe besonderen Nachdruck.

      VI

      Es bestand also doch eine Möglichkeit, die Schatten zu besiegen. Schwer war es allemal, doch nicht unmöglich. Er würde es schaffen, die vier Auserwählten zu finden. Von zweien wusste er den Aufenthaltsort bereits. Sie befanden sich in seiner Nähe und wussten noch nichts von Toraburs schicksalhafter Begegnung mit den Weisen. Die anderen Beiden würde er durch seine Späher suchen lassen.

      Torabur mochte die Weisen nicht besonders. Obwohl sie zweifelsohne mit einem unheimlichen Intellekt und einem immensen Wissen ausgestattet waren, zerfraß die Gier sie von innen heraus, schwärzte ihr Ansehen als ehrwürdige Weise. Für jede noch so unbedeutende Information musste man mindestens fünf Goldstücke auf den Tisch legen. Unerhört – doch er hatte ihre Hilfe benötigt und dieser erstickende Funken Hoffnung, diese eine Möglichkeit womöglich einhundert Schatten zu besiegen, war die fünfzig Goldstücke wert. Schließlich hatten die Weisen ihn bereits aus so mancher aussichtslosen, verschlingenden Situation befreit.

      Müdigkeit hing sich an Toraburs Augenlider; er sollte sich in seine Kammer zurückziehen. Morgen zur Mittagsstunde fand die bedeutsame Sitzung statt, in der er die anderen beiden Völker über sein Gespräch mit den Weisen in Kenntnis setzen würde. Die Verantwortung, schwerer als alle Felsen seiner Festung gemeinsam, folterte seinen zermürbten Geist in diesen aussichtslosen Zeiten.

      „Mein König. Es ist etwas Schreckliches geschehen.“ Torabur fuhr herum und blickte in das vom Krieg gezeichnete Antlitz Grimmdors. Er hatte ihn nicht kommen hören. Die Kälte hatte sich aus den Augen des Generals geschlichen, war durch eine pochende Angst vertrieben worden.

      „Grimmdor, so erzähl mir was du sahst.“ Noch nie hatte der König Grimmdor in Panik erlebt. Es musste irgendetwas unvorstellbar Grauenhaftes passiert sein, um diesen furchtlosen, kaltherzigen Krieger in eine solche Furcht zu versetzen

      „Davon musst du dir selbst ein Bild machen. Folge mir.“ Torabur nickte und folgte dem verstörten General in Schweigen gehüllt. Grimmdor führte ihn geradewegs auf eine der enormen Festhallen zu, in denen die wichtigen Feiern veranstaltet wurden und in welcher sie alle wichtigen Treffen hielten.

      Sie kamen dem Festsaal stets näher. Torabur hatte einen gerieften Stein im Magen, dessen Masse mit jedem Herzschlag zunahm. Jeder Schritt wurde zur Qual. Schließlich standen sie beide, wie Torabur es erwartet hatte, vor den Toren der Festhalle. Eine prachtvolle Axt und ein riesiger Hammer kreuzten das Tor in der Mitte. Die Klingen der Axt und der Kopf des Hammers waren vollständig aus Karneol gefertigt.

      Wann immer Torabur vor diesen Toren stand, wurde er von Stolz erfüllt. Sein Volk brachte wahrlich meisterhafte Steinmetze hervor. Diesmal jedoch nicht; diesmal tobte ein Krieg in seinem Schädel und er wusste nicht, was er antreffen würde. Auf einmal schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. An diesem Tag fand ein Wettbewerb statt; der Wettbewerb der Steinmetze.

      Hastig stießen Torabur und Grimmdor die gewaltigen Torflügel auf. Der König lief schnellen Schrittes und mit gesenktem Haupt hinein. Wenige Augenblicke später blieb er stehen, um sich umzusehen. Und er wünschte sich, dass sie die Torflügel nie aufgestoßen hätten.

      VII

      Ihre weißen Gewänder, vom Schnitt denen eines Priesters ähnlich, verdeckten ihre gesamten Körper. Die pechschwarze, an der Hälfte in ein tiefes Rot übergehende Schlange prangte auf der Vorderseite einer jeden Robe und wies die Träger als Klanglose Klingen aus. Jedenfalls für jene, die mit ihrer Verschwörung