Jenseits der Augenlider. Marc Dorpema. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Dorpema
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847669265
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      Waldoran war ein typischer Elf. Seine milchig-weiße Haut wurde von wallenden, blonden Haaren umrahmt und die glasklaren, blauen Augen sogen jede Neuigkeit emotionslos auf. Elfen waren Meister darin, ihre Gefühle zu verheimlichen. Bisweilen frustrierte die Tatsache Torabur, doch er musste ebenfalls einsehen, dass diese Gabe dem Waldvolk einen erheblichen Vorteil in Gesprächen verschaffte. Die typischen, spitzen Ohren lugten zwischen den goldblonden Haaren hindurch. Eine für Elfen aus Antár übliche, leichte Lederrüstung, welche dank seiner elfischen Flinkheit und Wendigkeit selten in den Kontakt mit Waffen gelangte, schützte seinen hochgewachsenen, schlanken Körper vor leichten Schlägen. Ein speerdünnes Kurzschwert mit einem Griff aus Elfenbein, in das ein verschlungenes Muster eingraviert worden war, hatte er neben einem enormen Jagdbogen in eine auf seiner Schulter festgezerrten Scheide gesteckt. Die Klinge des Schwertes bestand aus dem edelsten und robustesten Stahl der Zwerge und türkise Diamanten waren in sie eingesetzt worden. Sie formten einen Namen, Saliana. Der Name seiner Fürstin.

      „Von wie vielen dieser ranzigen Bestien ist die Rede?“ Leichtes Nicken und ängstliche Blicke begleiteten Grimmdors Frage. Dieses Heer, das wusste Torabur, war unmöglich zu schlagen. Er zögerte, lediglich für einen Herzschlag.

      „Es sind insgesamt über Siebzigtausend. Fünfzigtausend Orks, beinahe fünftausend Telénastiere und – eine unbekannte Anzahl Schatten. Es sind jedoch mehr als fünfzig.“

      Schweigen legte sich wie ein Leichentuch über die erblassende Gemeinde.

      Die Lage war aussichtslos. Nichts, was sich dieser Armee in den Weg stellen würde, hätte Aussicht auf Erfolg. Orks gewannen Kriege nicht wegen ihrer besonderen Fähigkeiten, sondern wegen ihrer erdrückenden Übermacht. Seine sechstausend Zwerge hätten dreißigtausend Orks allerdings mit Leichtigkeit niedermachen können und gemeinsam mit den Elfen und den Menschen, sollten auch die Telénastiere keine Bedrohung darstellen. Doch die Schatten waren der Inbegriff all ihrer Probleme.

      Elfen und Zwerge waren trotz unzähliger Fehden und offen-gezeigtem Hass untereinander ein schrecklicher Gegner, wenn sie Seite an Seite in die Schlacht zogen. Viertausend elfische Bogenschützen machten, bis die Orks und Telénastiere die erste Reihe der Zwerge erreichten, dreißig Schlachtreihen nieder. Wenn die Verbleibenden dann zu nahe kamen, zogen die Elfen binnen eines Augenblickes ihre schmalen, elegant geschwungenen Klingen und begannen ein furchteinflößendes Massaker. Unterdessen stürmten sechstausend wütende Zwerge vor und gruben sich mit ihren monströsen Äxten oder Hämmern durch die Anordnung der Angreifer. Die gegnerischen Flanken wurden von jeweils fünftausend Menschen auf jeder Seite niedergerannt.

      Eine unfehlbare Taktik. Außer gegen die Schatten. Die Schatten bestanden lediglich aus dichten, zusammengenähten Rauchschwaden, welche einen Schweif aus grauem Nebel, oder Dunst, besaßen. Sobald sie einem Geschöpf des Ostens zu nahe kamen, war es zu spät. Qualvoll trat das Blut aus jeder einzelnen Pore des Körpers. Man starb einen entsetzlichen Tod. Lediglich die mächtigsten Zauberer vermochten es, Schatten zu vernichten. Von diesen Magiern gab es allerdings nicht mehr als eine Handvoll. Er seufzte innerlich; Verantwortung stemmte ihr lähmendes Gewicht auf Toraburs Schultern, zwang ihn mit aller Macht in die Knie.

      Konzentration. Er durfte nicht zulassen, dass solche Gedanken ihm Kopfzerbrechen bereiteten.

      Der König brach das Schweigen als Erster.

      „Meine Freunde, ich erkläre die Besprechung hiermit für geschlossen. Ihr dürft euch nun zurückziehen. Es wird weitere Treffen geben.“

      Torabur benötigte Bedenkzeit; die Weisen waren seine einzige Möglichkeit, befürchtete er. Sie würden gewiss eine Lösung haben. Sie mussten.

      III

      Waldoran verließ den Saal im höchsten Turm der Festung als Letzter. Ein durchaus gelungener Turm, fand er; wenn auch ein wenig zu schwerfällig und massiv. Kolossale, unfassbar detaillierte Verzierungen aus Marmor und Emaille schmückten die hohen Wände. Doch an die Pracht seiner Heimat reichte selbst die vortrefflichste, zwergische Steinmetzkunst nicht heran.

      Der Fürst träumte häufig von den Wäldern Antárs. Dort, in der Geborgenheit der mächtigen Bäume, lebte er seit hunderten von Wintern in Einklang mit seiner Umgebung, in Diskurs mit ihr. Zierliche, geschwungene Linien aus diversen Holzsorten schmückten jeden Stamm und kreierten ein unvergleichliches Mosaik aus den exotischsten Brauntönen. Sie lebten in Baumhäusern aller Größenordnungen und während manche es simpel bevorzugten, verweilte Waldoran in palastähnlichen Residenzen. Die Einrichtung stimmte mit einer Vielzahl der Behausungen des Ostens überein – bis auf die fließende Eleganz, welche das Waldvolk perfektioniert hatte – doch existierten keine Möbel in Materialien, welche nicht dem verschlingenden Wald entstammten.

      Ein Feuer zu entfachen, war trotzdem möglich. Jegliche Wände der Baumhäuser wurden mit einem speziellen Serum überzogen, welches feuerabweisend wirkte und aus eine der umliegenden Pflanzen gewonnen wurde. Die Mannigfaltigkeit der exotischen Holzsorten, von welcher alle einen eigenen, betörenden Duft verströmten, überwältigte nicht bloß die Elfen.

      Nun zwangen ihn die Umständen des Krieges jedoch dazu, ein Quartier in der Festung Eisenturm zu beziehen und mit den zwergischen Bräuchen kam er nur äußerst mühevoll zurecht. Ozeane an Bier und Branntwein, wenig Schlaf und eine schreckliche Musik, dominiert von enormen, ohrenbetäubenden Trommeln, erklärten seiner noblen Grazilität den Krieg. Doch am stärksten vermisste er seine Fürstin. Saliana war ein sommerlicher Sonnenaufgang über den mysteriösen Küsten der Insel; die Edelsteine Santúrs stritten sich darum, welche ihre Augenhöhlen füllen durften. Kristallklar wie das Wasser selbst, kein Äderchen geplatzt. Wallende, weiß-blonde Locken umrahmten ihr blasses Antlitz. Sinnliche, elfenbeinerne Lippen rundeten ihre Vollkommenheit ab. Sie roch nach frischem Laub und Rosen.

      Gemächlichen Schrittes spazierte Waldoran den endlosen Gang im Hauptgebäude entlang. In elfischen Augen amateurhaft gearbeitete Gemälde zwergischer Herrscher verzierten nun den kalten Stein. Mit Farbe und Pinsel waren die Elfen ihren halbwüchsigen Verbündeten immer noch hoffnungslos überlegen. Jedes sah gleich aus, befand der Fürst mit dem Blick eines Kenners und überlegte, ob nicht lediglich jeder Herrscher eine verblüffende Ähnlichkeit zum vorherigen aufwies.

      Das hohle Klappern von Stiefeln erklang hinter ihm auf dem marmornen, Mosaik-bedeckten Boden. Bedächtig drehte der Elf sich um. Er erwartete, soweit er wusste, keine Nachrichten. Womöglich gab es Neuigkeiten bezüglich Saliana. Sie hatte in den letzten Monden furchtbar erschöpft gewirkt; ein sicherer Vorbote finsterer Zeiten.

      „Waldoran. Wir wissen nun, wer der Heerführer der gegnerischen Truppen ist.“ keuchte ein unscheinbarer Zwerg. „Es ist Latenor.“

      „Unmöglich.“ konstatierte Waldoran emotionslos.

      Der Zwerg, der ihm die Botschaft überreichte, kam ihm nicht bekannt vor. Wahrscheinlich ein niederer Diener der Festung.

      „Unsere Späher in Nahran Thur haben ihn bei seinem Heer gesehen. Er hat eine Rede gehalten. Vor allen Kriegern, siebzigtausend. Ich habe es zuerst Torabur berichtet. Er sagte mir, ich solle alle Mitglieder des Kriegsrates darüber in Kenntnis setzen. Wenn die Sonne am morgigen Tag am höchsten steht, werden alle im Königssaal erwartet.“

      „Ich werde erscheinen.“

      Die Fassade von kühler Intelligenz und Stärke aufrechterhaltend, nickte Waldoran dem Zwerg dankbar zu. Dieser verbeugte sich und verschwand.

      Latenor. Das erklärte sein plötzliches Verschwinden. Allerdings konnte sich der Fürst keinen Reim aus dieser Botschaft machen. Dass Latenor sie verraten hatte, schien unmöglich. Der Elf war ein berühmter Fechter. Er war bekannt, ein Offizier, genoss Ansehen und Respekt.

      Bedächtig strich Waldoran zu seinem Schlafgemach. Sie waren einmal Freunde gewesen. Gute Freunde. Doch auf einmal hatte er sich in Luft aufgelöst. Verschwand, von einem Tag auf den anderen. Waldoran und eine Vielzahl anderer Elfen hatten vergeblich nach ihm gesucht. Anfangs hatte Waldoran noch angenommen, dass sein Freund wiederkehren würde. Doch er hatte sein Antlitz nie wieder gezeigt. Auch Waldorans Hoffnungen waren nun erloschen,