Zeit ist nicht das Problem. Jens Wollmerath. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Wollmerath
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847629283
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sie, wie die Amüsierwaren nur noch Abbild des Arbeitsvorganges sind, nach welchen Automatismen unsere Freizeit abläuft. Und dann hier: 'Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amüsement'.“

      Der Professor klappte das Buch wieder zu.

      „Verstehen Sie? Das was Sie für Muße halten, ist nichts Anderes als eine weitere Form unseres mechanisierten Lebens!“

      Karl war immer tiefer in seinen Sessel gerutscht und schluckte. Der Professor hatte mit einer solchen Intensität gesprochen, dass er sich nicht traute, das eingetretene Schweigen zu brechen. Nach einigen Augenblicken setzte sich Hardenberg wieder hin und griff nach seiner Tasse.

      „Niemand in unserer Roboterwelt hält doch länger als fünf Minuten aus, ohne sich mit irgendetwas zu beschäftigen. Arbeiten, spielen, gucken, hören. Wo soll denn da noch Zeit für den freien Geist bleiben?“ setzte er seine Ausführungen fort, während ein Schatten über sein Gesicht wanderte.

      „Entschuldigen Sie“, wandte Karl vorsichtig ein, „aber die meisten Menschen arbeiten doch um zu leben.“

      „Ja, da haben Sie recht. Aber noch weitaus verbreiteter ist die Annahme, dass wir uns auch über unsere Arbeit definieren. Das haben wir zu nicht wenigen Anteilen dem Calvinismus und der protestantischen Ethik zu verdanken. Da wurde Erfolg mit Arbeit gleichgesetzt, Misserfolg dagegen war der Beweis, dass man nicht zu den Erwählten gehört. Also begann man zu schuften, legte den Grundstein für den Markt und die spätere Industrialisierung. Und was gab man auf? Aristoteles brachte es auf den Punkt: ‚Die Muße ist die Schwester der Freiheit!’ Wir haben uns der Knechtschaft des Marktes übergeben. Natürlich konnten wir dafür dem katholischen Frondienst abschwören!“

      „Vielleicht hängt es ja auch mit dem Geld zusammen", sagte Karl, „Schließlich muss man arbeiten, um Geld zu verdienen, von dem man dann seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Das ist ja unter anderem auch der Grund, warum ich heute hier bin.“

      Jetzt musste der Professor schmunzeln.

      „Eine nicht ganz ungeschickte Überleitung Herr Grün. Sie gefallen mir. Aber bedenken Sie, Oscar Wilde sagte nicht zu unrecht: 'Muße, nicht Arbeit ist das Ziel des Menschen'.“

      Er richtete sich wie ein Birkenstamm in seinem Sessel auf und sah Karl mit festem Blick an. Offensichtlich überlegte er nach einem passenden Folgesatz.

      Schließlich räusperte er sich und begann: „Herr Grün, was würden Sie davon halten, ein Jahr lang nichts zu tun?“

      Karl stutzte.

       Der spinnt!

      Hardenberg fuhr fort: „Ich meine, stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten den Auftrag, zwölf Monate lang jede Form von Arbeit zu vermeiden und sich voll und ganz der Muße hinzugeben. So wie ein griechischer Gott.“

      Er verzog bei diesem letzten Satz keine Miene, obwohl Karl fast lachen musste.

      „Nun“, sagte Karl, „ich glaube kaum, dass es dazu eine Möglichkeit gäbe. Ich meine, wovon sollte ich leben, wenn ich mich einzig dem Müßiggang hingebe? Wer sollte so verrückt sein und mich dafür bezahlen, dass ich nichts tue?“

      „Ich würde so jemanden nicht als ‚verrückt’, wie Sie sagen, bezeichnen. Vielleicht eher neugierig und interessiert. Außerdem verwechseln Sie da schon wieder den Begriff!“

       Nein, nein, ich verstehe nichts, will nichts verstehen, will nach Hause. Was brabbelt der da von Muße? Ich brauch einen Job, einen guten Job, mit dem ich Geld verdienen kann. Dieser Mensch macht offenbar seine Kohle mit dem Zusammenbau von Tagträumen. Mann, ich sitze seit ’ner knappen halben Stunde hier und weiß nicht mal, worum es geht. Wo ist das Vorstellungsgespräch?

      Gerade als Karl dies fragen wollte, öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Raum, der offensichtlich ein Vertrauter des Professors war. Jedenfalls nickte er beim Hereingehen Hardenberg nur kurz zu und streckte Karl die Hand hin.

      Er schien Ende dreißig und trug das schüttere, dunkelblonde Haar streng zurückgekämmt. Der graumelierte Vollbart machte ihn etwas älter als er vermutlich war und im Gegensatz zu dem Professor wirkte er weniger elegant.

      „Und, ist das unser Proband?“ fragte er an den Professor gewandt, während er Karls Rechte kräftig umklammerte.

      „Wir werden sehen“, antwortete Hardenberg, „Das, lieber Herr Grün, ist Dr. Kiefer, der Mitinitiator des Projektes.“

      „Sehr erfreut“, erwiderte Karl, „aber von welchem Projekt sprechen Sie denn eigentlich?“

      „Oh, ich dachte, ich hätte mich deutlicher ausgedrückt. Die Sache mit der Muße!“

      Der Professor schien langsam ein wenig müde zu werden.

      „Ich sehe schon, ich bin genau richtig gekommen“, schaltete sich Dr. Kiefer ein. „Herr Grün, was haben Sie bisher gemacht? Ich meine beruflich?“

       Endlich! Das Bewerber-Arbeitgeber-Ritual beginnt. Dann wollen wir in den Tanz mal einsteigen.

      „Ich habe bis vor kurzem studiert, Magister in Philosophie, und bin seitdem auf Jobsuche. Während des Studiums habe ich ein Praktikum bei einem Radiosender gemacht und in den Semesterferien ab und zu in einer Fabrik gejobbt.“

      „Dann haben Sie die Arbeitswelt ja schon ein wenig kennen gelernt.“

      Der Doktor nickte zufrieden.

      „Und was hat sie zur Philosophie getrieben?“

      „Hm“, Karl überlegte kurz, „ich habe mich einfach immer für verschiedene Ansichten über die Welt und die Menschen interessiert. Ich wollte den Dingen auf den Grund gehen, Erklärungen bekommen und auf jeden Fall meinen Horizont ein wenig erweitern.“

      „Und was halten Sie vom Arbeiten?“

      Dr. Kiefer sah ihn prüfend an.

       Nein, nicht schon wieder. Was wollen die?

      „Wie ich schon sagte, man muss wohl arbeiten, um leben zu können. Arbeit gehört einfach dazu.“

      „Sind Sie davon überzeugt?“

      „So überzeugt wie ich sicher bin, dass man Luft zum Atmen braucht.“

      Karl betonte seinen letzten Satz, als wolle er das Thema damit endgültig beenden.

      Die beiden Hochschullehrer sahen sich an.

      „Ideal, würde ich sagen, was meinen Sie?“

      Dr. Kiefer schien schon überzeugt.

      „Ja, das klingt tatsächlich ganz vielversprechend“, stimmte Hardenberg zu. „Und, machen Sie mit?“

      „Ja wobei denn?“

      Karls Stimme wurde vor Ungeduld schon laut.

      „Ein Jahr lang Muße! So wie es Herr Hardenberg erklärt hat“, übernahm Kiefer wieder das Wort, „Sie halten sich von jeglicher Arbeit fern und gehen einfach nur ihren Gedanken und Wünschen nach!“

      „Entschuldigung, aber versuchen Sie mich hier auf den Arm zu nehmen?“

      Karl musste sich ein bisschen beherrschen.

      „Wovon soll ich denn leben, ich meine, wer bezahlt mir das?“

      „Wir!“ entgegnete Kiefer mit pragmatischem Tonfall, „Sie bekommen jeden Monat eintausendzweihundert Euro netto, unter zwei Bedingungen: Sie dürfen nichts tun, was im weitesten Sinn Arbeit oder berufliche Tätigkeit ist, und Sie dürfen nicht verreisen. Weder im Inland noch ins Ausland.

      „Soll das ein Witz sein?“

      Karl