Zeit ist nicht das Problem. Jens Wollmerath. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Wollmerath
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847629283
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in einigen Unterlagen und antwortete erst nach einem Moment: „Es ist vielleicht auch besser, wenn Ihnen das der Professor nachher selbst erzählt.“

       Was wird das hier wohl? Um Medikamententests kann es nicht gehen, schließlich bin ich in der Philosophischen Fakultät. Aber was soll hier ein Proband machen? Bücher lesen zu Testzwecken? Warum bin ich überhaupt hierhin gefahren? Das Ganze wirkt doch wirklich alles andere als vielversprechend. Vielleicht hätte ich doch noch einmal bei der Jobbörse mein Glück versuchen sollen. Steve hatte wahrscheinlich von Anfang an Recht gehabt. Los, steh auf und geh einfach wieder!

      In diesem Moment ging die Tür auf und ein Mann betrat das Zimmer. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, himmelblaues Hemd mit blau-weiß gestreifter Krawatte und schwarze Budapester. Die weißen Haare waren sorgfältig gescheitelt, auf der Nase saß eine Lesebrille.

       Na, der trägt das Prädikat „Älterer Herr“ aber mit selten anzutreffender Würde.

      Er schien Karl zunächst nicht zu bemerken.

      „Es ist nicht zu glauben. Ich sitze drei Stunden in dieser Konferenz, es herrscht eine unbeschreibliche Aufregung und was ist das Ergebnis? Wir werden den ganzen Stress nächste Woche noch einmal wiederholen, um dann endgültig abzustimmen.“

      Er betonte das Wort Stress, als sei es einer schwer zu erlernenden Fremdsprache entliehen.

      Frau Neuland lächelte: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde für Sie schon eine passende Ausrede finden. Ich weiß, wie träge diese Dekanatskonferenzen sind.“

      „Sie sind ein Engel!“

      „Wir haben übrigens einen Gast, da sitzt der Herr Grün!“ Frau Neuland nickte leicht mit dem Kopf.

      Der Mann drehte sich zu Karl und reichte ihm die Hand. Seine Augen schienen einen Lichtschein zu verteilen, als sie den Gast ruhig anblickten.

      „Entschuldigen Sie vielmals Herr Grün, Hardenberg mein Name, aber diese Bürokratie nagt manchmal an meinen Nerven. Was können wir für Sie tun?“

      Karl schaute den Mann etwas verwundert an.

      „Der Herr Grün“, schaltete sich Frau Neuland ein, „ist ein Bewerber für das Projekt. Er hat um halb zwölf einen Termin bei Ihnen.“

      Professor Hardenberg fasste sich an den Kopf.

      „Was wäre ich ohne Sie, Frau Neuland? Kommen Sie, junger Mann, gehen wir nach nebenan.“

      Er führte Karl durch eine Tür links vor dem Schreibtisch in sein Büro. Hier herrschte ein ähnliches Durcheinander wie im Vorzimmer, allerdings auf höherem Niveau. Die Stapel der herumliegenden Bücher waren alle sehr akkurat geschichtet und schienen einer bestimmten, aber nicht zu erkennenden Ordnung nach sortiert zu sein.

      „Setzen Sie sich! Möchten Sie etwas trinken?“

      Der Professor wies mit seiner schlanken Hand auf einen Ledersessel, der mit zwei baugleichen Pendants eine Sitzgruppe an einem Art-Deco-Tischchen bildete.

      „Ein Kaffee wäre schön.“

      Karl versank in den Tiefen des Sitzmöbels.

      Im selben Moment öffnete sich die Tür und Frau Neuland kam mit einem Tablett herein.

      „Ah, Sie können einfach Gedanken lesen!“

      Der Professor lachte, während seine Assistentin zwei dampfende Tassen und ein Milchkännchen auf den Tisch stellte, um dann sogleich wieder lautlos durch die Seitentür zu verschwinden.

       Besser ich wundere mich über gar nichts mehr. Einfach mal abwarten.

      Professor Hardenberg ließ sich in einen der anderen Sessel gleiten, griff nach seiner Tasse und rührte einen Moment nachdenklich mit dem Löffel darin herum.

       Er hat sich keine Milch eingegossen! Der Mann hat Seltenheitswert. Irgendwie flößt der einem Respekt ein, scheint aber nicht so ganz dicht.

      Der Professor rührte konzentriert weiter. Nach einer Weile brach er unvermittelt das Schweigen: „Herr Grün, was wissen Sie über die Muße?“

       Bitte? Was ist los?

      Der Professor machte aber keinerlei Anstalten, die Frage zu wiederholen oder ihr einige erklärende Sätze hinzuzufügen.

      „Na ja, Muße heißt, glaube ich, so viel wie nichts tun, faulenzen oder so ähnlich.“

      Karl verschränkte die Arme und sah suchend an die Zimmerdecke.

      Hardenberg betrachtete ihn und rieb sein Kinn.

      „Nicht schlecht, aber keinesfalls ausreichend. Da haben Sie wohl eher die landläufige Vorstellung des Müßiggangs vor Augen. Der wird ja gemeinhin mit Faulenzerei gleichgesetzt. Wenngleich er doch dem Wortursprung nach das Aufsuchen der Muße ist. Und die bedeutet doch noch viel mehr.“

       O.K., aber davon habe ich keine Ahnung. Die Verbindung zur Annonce in der Zeitung kriege ich auch noch nicht so ganz hin. Wahrscheinlich ist der Prof einfach ein bisschen durchgedreht.

      Der Professor stellte seine Tasse wieder ab, ohne einen einzigen Schluck getrunken zu haben, und stand auf.

      „Sokrates hat einmal gesagt, ‚Muße ist der schönste Besitz von allen’“, hob er an und blieb hinter seinem Sessel stehen. „Bei den Griechen war die Muße allein den Göttern vorbehalten. Nur sie konnten sich dem süßen Nichtstun hingeben, während die Menschen ihrem Tagwerk nachgehen mussten. Erst durch die Einführung der Sklaverei konnten dann auch die Reichen, die Adligen der Muße frönen. Unsere gesamte moderne Philosophie wäre doch unvorstellbar ohne den sinnierenden Denker, der sich frei dem Lauf der Gedanken hingibt.“

       Worauf will der hinaus? Oh Steve, du hattest Recht, wie immer...

      Hardenberg fuhr fort: „Die Künstler, die Denker, die Poeten, sie haben die Muße als Bedingung verstanden, um dann wirklich Großes schaffen zu können.“

      Langsam schritt er zu einem der Bücherregale und zog einen Band heraus.

      „Sehen Sie hier, ein ganz einfaches Lexikon. Ich will Ihnen kurz vortragen, was hier über die Muße steht.“ Er blätterte, während Karl abwartend an seinem Kaffee nippte.

      „Muße“, las der Professor laut, „das tätige Nichtstun; spezifische Form schöpferischer Verwendung von Freizeit; Möglichkeit und zugleich Grundbedingung der Selbstfindung, der kreativen Selbstverwirklichung, des Selbstseins wie auch der Partizipation und Verwirklichung von Kultur, auch Kunst, ja der Freiheit selbst…“

      Hardenberg sah Karl an und wartete auf eine Reaktion.

      „Ja verstehen Sie denn nicht, junger Freund? Die Muße ist die absolute Vollendung des Menschseins, die wir vollkommen verlernt haben. Wir definieren uns über Arbeit, Beruf, Hobbys. Aber von der Muße, da wissen wir überhaupt nichts mehr. Zugegeben, es ist gut, dass es keine Sklaverei mehr gibt, doch dafür haben wir ja die Maschinen erfunden.“

      Der Professor wirkte erregt.

      „Wann, lieber Herr Grün, wann haben Sie sich denn das letzte Mal so richtig der Muße hingegeben? Überhaupt jemals?“

      Karl überlegte.

      „Ich war letzte Woche im Kino und…“

      „Nein, nein“, unterbrach ihn Hardenberg, „warten Sie, ich werde Ihnen noch etwas vorlesen.“

      Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein Buch, das auf einem der Stapel lag und setzte sich Karl wieder gegenüber. Konzentriert schlug er das Buch an einer Stelle auf, in der ein Zettel eingesteckt war.

      „Hier, Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, viel zitiert, oft falsch interpretiert. Wie dem auch sei, hören Sie: 'Amüsement ist