„Ich bin Schweizer, aus Zürich.“
„Ein Schweizer?!“ Unwillkürlich musste ich lachen. „Normalerweise gehen die Österreicher in die Schweiz, nicht umgekehrt.“
„Ich hatte meine Gründe“, meinte er nur kryptisch.
„Und du willst nicht darüber reden.“
„Nein.“
Als wir an der letzten Ampel vor der Autobahn standen, sahen wir einander ein paar Sekunden lang an – und mussten grinsen.
„Gleichstand, würde ich sagen“, bemerkte ich.
Er nickte nur und bis wir zu Hause waren, hielten wir beide den Mund. Erst, als er an der Kreuzung Moselgasse/Urselbrunnengasse anhielt, fiel wieder ein Wort.
„Danke fürs Heimbringen“, sagte ich und machte Anstalten, auszusteigen.
„Warte noch kurz, Carmen.“
„Ja?“ Erwartungsvoll drehte ich mich in seine Richtung.
„Wenn du doch einmal drüber reden willst …“ Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.
Ich rang mir ein Lächeln ab. „Danke, das ist lieb, aber das willst du nicht, glaub mir.“
Als ich wirklich ausstieg, vermeinte ich, ihn sagen zu hören: „Doch, ich will, glaub mir.“
Kapitel 3
Mühsam hielt ich die letzten eineinhalb Arbeitstage bis zum Wochenende durch. Inzwischen brauchte ich diese Auszeiten, wie einen Bissen Brot! Ausschlafen, in Ruhe die Dinge tun, zu denen unter der Woche die Zeit fehlte und wenn ich in einem so miesen Zustand war, wie im Moment, eine ganze Menge Eigenmentaltraining. Am Freitagmittag freute ich mich darauf! Dummerweise machte ich mir selbst einen Strich durch die Rechnung.
Am Samstagmorgen nämlich beschloss mein Körper einfach um halb Acht, er hätte jetzt genug geruht und ich möge doch meinen Kadaver gefälligst aus meiner Bettstatt heraus bewegen. Das hätte ja prinzipiell noch nicht der Untergang des Abendlandes bedeutet, wäre da nicht noch eine Nebenwirkung gewesen: Es war wieder einer dieser Tage. Ich war so unrund, dass ich mich selbst nicht mochte. Eine innere Unruhe machte unkonzentriert und unentschlossen, ich wollte nichts anfangen, obwohl ich weiß Gott genug zu tun gehabt hätte: Zum Beispiel Haushalt und die Diplomarbeit für meine Ausbildung zur Mentaltrainerin schreiben, um nur zwei zu nennen.
Seufzend rang ich mich dazu durch, wenigstens das Geschirr abzuwaschen. Danach stand ich wieder unschlüssig herum. Soll ich laufen gehen? Mag nicht, zu faul. Bäh.
Mein Handy düdelte los, Nummer kannte ich nicht.
„Royner.“
„Hallo? Carmen? Hier spricht Sebastian.“
„Hallo!“ Hm? Woher hatte unser Neuzugang denn meine Telephonnummer? Ah ja, Chorliste, alles klar.
„Hi! Ich wollte fragen, ob du heute schon etwas vorhast. Ich … ja … ich bin ja noch nicht so lange in Wien und hätte gern einen Spaziergang gemacht … in der Stadt vielleicht oder so etwas in der Art und brauche einen Location Guide.“
Mühsam unterdrückte ich ein Seufzen. An jedem anderen Tag, nur nicht heute.
„Sebastian, tut mir leid, ich …“
„Nein, nein, mir tut´s leid“, unterbrach er mich, „Ich dachte, weil ich nichts vorhabe, haben auch andere nichts vor. Verzeih.“ Er klang schrecklich enttäuscht.
„Das ist es nicht. Ich bin nur entsetzlich unrund und unleidlich und wäre dir heute eine furchtbar schlechte Gesellschaft“, erwiderte ich, mit ein wenig schlechtem Gewissen.
„Unrund? Was bedeutet das?“
Unwillkürlich musste ich lachen. „Kennst du das Gefühl völliger innerer Ruhe und Gelassenheit? Wenn du mit dir und der Welt völlig im Reinen bist?“
Ein leises Lachen drang an mein Ohr. Bei diesem Geräusch stellten sich die Haare auf meinen Armen auf. Was für eine Stimme …
„Ja, manchmal.“
„Du Glücklicher. Unrund ist das genaue Gegenteil.“
Für eine Sekunde war es still in der Leitung. „Oh und warum bist du so … so unrund?“
„Wenn ich das wüsste“, seufzte ich und schalt mich gleich darauf eine dumme Nuss. Ich musste ja nicht gleich alle neuen Bekannten vergrämen mit meiner Jammerei! Ganz zu schweigen davon, dass ich es ja erst vor wenigen Tagen erfolgreich vermieden hatte, mit ihm über meinen Gemütszustand zu reden.
„Vielleicht kann ich ja bei einer Fact finding Mission behilflich sein“, schlug er vor.
„Danke, das ist lieb von dir, aber ich fürchte, das ist eine one woman show.“
Er seufzte leise. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg dabei.“
„Danke, ich tue mein Bestes. Schönen Tag wünsche ich dir noch.“
„Dir auch, trotz unrund.“
Phantastisch, jetzt hatte ich auch noch ein schlechtes Gewissen. Grummelnd vergrub ich mein Gesicht in einem Polster. Und weil ich schon so schön auf mein Sofa drapiert war, blieb ich auch gleich da.
Am frühen Nachmittag reichte es mir dann endgültig. In meiner Unruhe würde ich noch die Couch durchwetzen! Da erschien es mir doch vernünftiger, ein paar Kilometer auf die Sohlen meiner Sportschuhe zu bringen, auch gegen das laute Protestgeschrei meines inneren Schweinehundes.
Nach ca. zwanzig Minuten, ich wurde gerade warm, kam mir eine männliche Gestalt in kurzen Laufshorts entgegen. Was ich aus der Entfernung erkennen konnte, rief in meinem Gehirn ein höchst unreifes Wort der Beschreibung hervor: Lecker! Groß, schlank, lange Beine – mmm! Als wir uns einander näherten, begann mein Gehirn noch etwas zu melden: Kenne ich, diese Gestalt!
„Hi!“ rief Sebastian und winkte mir.
„Hallo!“ Ein bißchen atemlos blieb ich stehen. „Ich dachte, du wolltest in die Stadt!“
Er joggte locker auf dem Stand weiter, er atmete nicht einmal schneller – Angeber.
„Du bist ja nicht mitgegangen.“
„Na super, jetzt bin ich wieder schuld!“
Für einen kurzen Moment stoppte er und hob die Hände. „Nein! Das war doch nur ein Scherz!“
„Oh ja, das sagen sie alle!“ Jetzt war ich dran mit „scherzen“.
„Nein, ehrlich …“ Seine Stimme verebbte, als er merkte, dass ich ihn auf den Arm nahm. Dann stützte er die Hände in die Seiten und senkte lachend den Kopf. Auf meinen Armen stellten sich schon wieder die Härchen auf. Ich musste meinen Körper irgendwie dazu bringen, diese Reaktionen einzustellen!
„Trotz allen unrund Seins bist du aber trotzdem rausgegangen.“
„Erschien mir die bessere Alternative … zum Durchwetzen der Couch … zu sein. Ist auf Dauer billiger.“ Langsam kam ich wieder zu Atem.
Mein Tenorkollege kicherte erheitert, ob wegen meiner Atemlosigkeit oder etwas Anderem blieb mir verborgen. „Vielleicht kann ich ja doch noch etwas beitragen, um dein Wohlbefinden zu steigern.“
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch.
„Ich biete eine Dachterrasse, gemütliche Möbel, wahlweise alkoholische und nicht-alkoholische Getränke und etwas zu essen“, zählte er an den Fingern auf. Schlanken, langen, sehr gepflegten Fingern. Himmel Herrgott! Carmen, was ist los mit dir?! Kaum hatte ich mich selbst wieder einigermaßen unter Kontrolle, kam eine leichte Brise auf und wehte mir aus seiner Richtung ins Gesicht.