Es war eine dieser typischen Situationen, wie wir sie sonder Zahl hatten, immer wieder. Wenn ich mir die Konstellation in der Abteilung so ansah, kam mir unwillkürlich die Metapher mit der Schafherde in den Sinn: Alle rennen einem Leitschaf nach, das wäre dann ich, bäbä. Lena ist der Hirtenhund – nervend mit ihrem Gekläffe und dem zeitweiligen Schnappen nach unseren Beinen, aber im Großen und Ganzen harmlos. Bis zu dem Zeitpunkt, wo das Leitschaf den Hirtenhund ignorierte und seinen eigenen Weg ging. Das bedeutete die in Frage Stellung ihrer Position, bzw. ihrer Person und wenn wir eine Aufgabe hatten, dann die, sie zu unterstützen, vorbehaltlos und widerspruchslos, egal, wie unsinnig ihr Tun auch war. Alles lief bestens, solange Routine herrschte und keiner aus der Reihe tanzte. Solange wir brav nachmachten, was sie vorhüpfte. Das schien auch für den Rest der Abteilung in Ordnung zu sein, wollte mir scheinen. Wehe aber, etwas lief aus der Schiene, dann bekamen alle den großen Stress – nur ja nichts entscheiden, nur ja nicht exponieren!
Wie auch?
Unsere Abteilungsleitung und nicht nur die, machte es ja allen Tag für Tag vor!
Individualität war ein leeres Schlagwort ohne Bedeutung. Verantwortung fiel in die gleiche Kategorie und bitte nur ja keine Eigenverantwortung einfordern! Das war die berühmte heiße Kartoffel, die so lange hin und her geschossen wurde, bis sich die Entscheidung entweder erledigt hatte, oder bei jemandem landete, dem diese kindischen Spielchen zu blöd waren – wie mir. Ja, ich hatte keine Angst davor, eine Entscheidung zu treffen, Maßnahmen zu setzen und dafür einzustehen und das passte ihr nicht, weil ich nicht jedes Mal bei ihr stand und ihre Meinung dazu einforderte! Wie auch, wenn sie die halbe Zeit nicht da war! Aber langsam lehnte ich jede Verantwortung ab, ging zu Dienst nach Vorschrift über.
Wo war das Problem, werden Sie jetzt fragen?
Das Problem war, dass ich weder so arbeiten wollte, noch konnte. So ticke ich einfach nicht. Abgesehen davon, dass ich mir wirklich schön langsam verarscht vorkam, denn immer, wenn es passte, wurde ich an meine Stellung als die Stellvertretung der Abteilungsleitung erinnert und in die Entscheidungsverantwortung gesetzt; was dann auch postwendend widerrufen wurde, sobald ich wirklich Entscheidungen traf. Der Widerruf ging dann auch jedes Mal mit der „Erinnerung“ an meine Position als Laborleiterin einher.
Prinzipiell würde man einer solchen Person raten, die Arbeit Arbeit sein zu lassen und nicht ins Private mitzunehmen. Fakt war nur leider, dass diese Situation, die mich für viele Stunden jeden Arbeitstag begleitete, irgendwann auch begonnen hatte, mich persönlich zu beeinträchtigen. Verdammt. Ich verabscheute Jammern, ich war kein Opfer. Aber irgendwann musste meine Frustration auch raus und meine Freunde kannten inzwischen alle diese Geschichten und in meinen Ohren war es immer das gleiche Lied. Ich hätte mit Freude jeden der Jobs angenommen, die mir im Laufe der Zeit angeboten worden waren, wäre da nicht immer dieser kleine Haken gewesen: Ich kannte die Firmenstrukturen mehrerer Firmen inzwischen zu gut, aus eigener Erfahrung und aus den Berichten von Bekannten und Freunden, um nicht zu wissen, dass es woanders genauso gelaufen wäre. Anderes Orchester, gleiche Symphonie. Der einzige Unterschied wären also eine neue Umgebung und die Einarbeitungszeit gewesen. Somit auch keine Alternative. Mist, Mist, Mist.
Weder meine Laune noch meine Arbeitssituation besserten sich in den folgenden Tagen. Meine einzigen Lichtblicke waren Veronika, die mich immer wieder aufbaute und sich bei mir ausweinte (ich war nicht die Einzige mit einer grenzwertigen Vorgesetzten) und der Mittwoch. Tatsächlich war ich aber inzwischen zu nicht mehr in der Lage, als zu funktionieren. Bitte nicht ansprechen und nicht umarmen, sonst fange ich an zu heulen! Meine Frustrationsschwelle war weit überschritten. Am liebsten hätte ich mich manchmal in eine Ecke gehockt und geweint.
Rita reichte ein Blick und ein Kopfschütteln meinerseits und ihr war alles klar. Wortlos legte sie mir eine Hand auf den Rücken und beließ es dabei.
Das Singen tat gut, aber ich steckte so tief in meinem Tief, dass ich mich nur oberflächlich darauf einlassen konnte. Scheinbar war ich ganz gut darin, meine Stimmung unter Kontrolle zu halten, denn nicht einmal Tina schien in der Pause etwas zu merken – oder sie sprach mich einfach nicht drauf an, weil sie mich inzwischen zu gut kannte.
So gut es mir also gelang, funktionierte ich durch die Chorprobe hindurch, aber es wäre gelogen, zu sagen, ich hätte mich nicht auf ihr Ende gefreut. Ich wollte nur noch nach Hause und ins Bett.
„Fährst du heim?“ fragte Sebastian mich, als ich mir die Jacke anzog.
„Mhm“, antwortete ich einsilbig.
„Möchtest du mitfahren?“
Überrascht hob ich den Kopf, um ihn anzusehen. „Mitfahren? Wo fährst du denn hin?“
Sein Bart hob sich und um seine Augen bildeten sich Fältchen. „Wenn ich die Chorliste richtig gelesen habe, ganz in deine Nähe.“
Meine linke Augenbraue ging nach oben. „Und wo ist „ganz in meiner Nähe“?“
„Moselgasse.“ In seiner Stimme klang ein leises Lachen mit. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Ute Sonja etwas zuflüsterte, die kurz in unsere Richtung sah, lächelte und nickte. Was hatten die zwei Grazien denn zu tuscheln, hm?
„Das ist in meiner Nähe“, bestätigte ich ihm trocken, dann lächelte ich mühsam. „Danke, ich fahr gerne mit.“
Ich verabschiedete mich noch von den anderen, bevor ich ihm auf die Straße folgte. Als er den Knopf an seinem Autoschlüssel drückte, blinkten die Lichter bei einem Jaguar X-Type auf. Zuerst dachte ich, das sei Zufall, wurde aber eines Besseren belehrt, als er mir die Beifahrertür aufhielt. Unwillkürlich warf ich ihm einen spöttischen Blick zu. Autos sind für mich Mittel zum Zweck – das Mittel, mich in erlebbarer Zeit von A nach B zu bringen und dafür muß die Schüssel unter meinem Hintern kein Vermögen kosten. Ganz zu schweigen davon, dass der Mann, der dieses Auto fuhr von seiner Aufmachung her so gar nicht dazu passte! Seine Hosen waren schon wieder zu kurz und sein Jackett hätte einem Mann um die sechzig gestanden – wobei ich mich an dieser Stelle stumm bei meinem Vater entschuldigte, der hätte das Ding definitiv nicht angezogen: Brauner Hahnentritt-Tweed mit Lederflecken auf den Ellenbogen, kantiger, etwas formloser Schnitt - aua.
„Du weißt schon, was man über Männer sagt, die so PS-starke Autos fahren?“ neckte ich ihn. „Baut Jaguar überhaupt irgendetwas, das weniger als 150 PS hat, außer möglicherweise die 1:25 Modelle ihrer Autos?“
Ohne eine Erwiderung ging er um seinen Boliden herum, stieg ein und startete.
So wenig ich ein so teures Auto brauchte, es war doch zugegeben ein erheblicher Unterschied, ob mein Skoda Diesel startete oder dieses schnurrende Kätzchen.
Sebastian schwieg so lange, bis wir auf den Ring einbogen.
„Du warst heute sehr ruhig“, stellte er fest. „Ist alles in Ordnung?“
Falsches Thema, ganz falsches Thema! Ich schluckte einmal, atmete tief durch und sagte dann sehr leise „Ja“ in Richtung meiner Knie.
Seine Erwiderung war ebenso leise: „Lügnerin.“
Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu. Ganz kurz sah er mich an. Im dunklen Auto konnte ich seinen Blick weder richtig sehen, noch deuten.
„Du willst nicht drüber reden, oder?“
„Nein.“ Meine Stimme schwankte ein wenig und ich mochte mich nicht dafür. Ich mochte es nicht, so emotional zu sein, ich fühlte mich dann so verletzlich und angreifbar.
Sebastian tat mir den Gefallen, nicht weiter zu fragen oder irgendetwas zu sagen. Das gab mir Zeit, um mich wieder zu fangen.
„Darf ich dich etwas fragen?“ Ich hatte beschlossen, wenigstens ein bißchen Konversation zu betreiben.
„Sicher.“
Wir standen an der Ampel am Ende der Prinz-Eugen-Straße.
„Woher kommst du ursprünglich?“
„Was meinst du?“