Das war nicht immer so gewesen. In meinen Anfangstagen in dieser Firma war ich neugierig gewesen, begierig zu lernen und mich zu etablieren.
Es hat Zeiten gegeben, da freute ich mich über jedes einzelne Mal, wenn jemand mich geschäftlich zu sprechen wünschte. Egal, ob der Anruf mich persönlich betraf, oder, ob ich nur an einen Kollegen, eine Kollegin verweisen konnte - es gab mir ein Gefühl von Wichtigkeit, des Wahrgenommen-Werdens. Eine Befriedigung, dass das professionelle Ich seine Daseinsberechtigung unter Beweis stellen kann! Wenn man schon sonst auf Ersatzmutter und Therapeutin reduziert wird.
Gefragt zu werden bedeutete, dass man wichtig war, dass deine Meinung wichtig war, dass … dass man irgendwann den Fehler machte, sich tatsächlich zu bemühen, sich Gedanken zu machen, entgegen allen Regeln Entscheidungen zu treffen und seine Meinung und Entscheidung auch tatsächlich ernst zu nehmen, ohne sich eine Ausrede zu überlegen, wie man sich später wieder herauswinden konnte. Es bedeutete, dass man irgendwann zur universell Zuständigen (oder auch Trottel für alles) gemacht wurde. Und inzwischen nervte dieses Telephon nur noch tierisch.
Aber bei all dem hatte ich mir ja wieder eine Oase der Ruhe geschaffen – zu Hause. Heim kommen, die Tür hinter sich zu machen und die Welt sich eine Runde ohne mich drehen lassen.
Dennoch, bei aller Freude über das Singledasein war ich doch immer wieder verblüfft, wie ich es schaffte, einen ganzen Tag mit völlig sinnlosen Dingen zu verbringen, wenn mir langweilig war, wie zum Beispiel fernsehen. Mit erheblichem Schrecken musste ich dann am Ende des Tages feststellen, dass ich wieder Stunden mit dieser „Tätigkeit“ verbracht hatte.
Tätigkeit? Habe ich das wirklich gerade als Tätigkeit bezeichnet? Dieser Begriff impliziert „Tun“! Entweder mit dem Körper oder dem Gehirn oder wenigstens irgendetwas! Tatsächlich tat sich aber während des TV-Glotzens herzlich wenig bei mir. Hin und wieder schob ich den Popsch ein wenig auf der Couch hin und her, damit er nicht einschlief, aber sonst? Fernsehen ist eine absolut schlechte Gewohnheit, stellte ich fest, deshalb wurde mir dabei auch häufig langweilig. Kein Scherz. Ich weiß, ich weiß, ich war irgendwie ein Paradoxon in mir selbst. Ich drehte den Fernsehapparat auf, weil mir langweilig war und dann wurde mir erst recht langweilig dabei. Dummerweise war ich aber im Moment zu träge, mir etwas Besseres einfallen zu lassen, speziell nach einem Arbeitstag, nach dem mir die Motivation fehlte, etwas Anderes zu tun, als mich berieseln zu lassen. Und mir waren in letzter Zeit auch keine guten Bücher untergekommen.
Kapitel 2
Also stand ich trotz der Veränderung wieder am Anfang und bei der Frage: „Ist es das wirklich? Das Beste, was ich erreichen kann?“
Weder konnte, noch durfte die Antwort „Ja“ lauten! Abwechslung musste her und zwar pronto! Also begann ich, in einem Chor zu singen (keine Angst um ihre Gläser, ich strebte keine Solo-Karriere an, ich bin auch kein Sopran, also nix mit hohem C). Nun, ich hatte zwar keine musikalische Ausbildung, das einzige Instrument, das ich spielte, war mein mp3-Player, aber trotzdem machte es Spaß und ich zeigte sogar ein gewisses Talent! An dieser Stelle meinen innigsten Dank an meine Eltern, die mir ein gerüttelt Maß an Musikalität und ein gutes Gehör vererbt haben und an unseren Chorleiter, dass er mich nicht gleich wieder heimgeschickt hat.
Wir waren zwar samt und sonders Amateure – ich war sogar musikalische Anarchistin! Wie angedeutet, konnte ich nicht einmal Noten lesen, geschweige denn vom Blatt zu singen und manchmal sang ich auch etwas ganz Anderes – aber wir hatten den weltbesten Chorleiter und wir waren mit Herz und Seele dabei und dadurch waren wir auch wirklich gut! Darüber hinaus lernte ich einige Menschen kennen, die mir auf Anhieb sympathisch waren und mit ein paar von ihnen freundete ich mich sehr schnell an. Also gab es in meinem Leben ab sofort einen Abend, auf den ich mich mehr als auf jeden anderen freute.
„Mist“, dachte ich nach einem Blick auf die Uhr. Es war schon Viertel nach Sechs, die Straßenbahn brauchte noch vier Minuten, bis sie endlich kam und das hieß, ich kam gnadenlos zu spät zur Chorprobe. Mit einem Seufzen ergab ich mich in mein Schicksal. Es hätte auch nichts geändert, hätte ich mich darüber geärgert.
Raschen Schrittes eilte ich dann von der Haltestelle zum Probenlokal und stürzte die Stiegen in den ersten Stock hinauf. Eine Viertel Stunde Verspätung ist noch vertretbar. Möglichst leise versuchte ich, in den Probenraum zu schleichen, flüstere ein halblautes „Hallo!“ in Richtung Georg, unseren Chorleiter, und steuerte auf einen freien Platz bei den Tenören zu. In der letzten Reihe links außen, weil ich ersten Tenor sang. (Tenöre? Wie jetzt? Ja, tatsächlich, ich sang Tenorlage, bei Frauen heißt diese Stimmlage „Kontraalt“ und kommt in Amateurchören gar nicht so selten vor. Auslöser war Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Herren am Kreuze“, bei dem die Tenorlage so hoch notiert ist, dass eine Frau zwar keine Probleme damit hat, die Herren sich aber sehr plagen müssen und teilweise auch abschmieren. Also „opferte“ ich mich und die anderen Tenöre empfanden es sogar als Verstärkung, weil ich eben locker nach oben kam und auch oben blieb. Danach bin ich bei den Knaben geblieben, weil sie sich leider nicht wundersam vermehrt hatten. Sie sehen, verwöhnt waren die Männer in diesem Chor wirklich nicht).
Auf dem Weg zu meinem Stammplatz winkte ich Rita zu und wurde danach von Adam mit einem leisen: „Hallo, schönste aller Tenörinnen!“ begrüßt.
„Habt Dank für den Rosenstrauch!“ flüsterte ich zurück und schaute nach links, um zu sehen, wer sonst noch da war. Eigentlich rechnete ich ja nur mit Wolfgang, Helmut und Franz, aber, siehe da! Ein neues Gesicht in unsrer illustren Runde! Ein Gesicht mit vielen dunklen Haaren darin und drumherum, aber schönen Augen. Überrascht lächelnd winkte ich ihm zu. Eigentlich hätte ich gedacht, dass diese Geste in ihrer friedfertigen Natur kaum missverstanden werden kann, aber er sah mich an, als wäre ich ein Geist. In diesem Moment rief der Chorleiter zur Ruhe.
„Heute sind eine Menge Leute entschuldigt, scheinbar geht´s in der Arbeit hoch her, aber wir haben auch einen Neuzugang bei den Männern!“ Georg deutete in die Richtung des noch Unbekannten. „Sebastian, der uns übers Internet gefunden hat, oder?“
„Yep.“
Wir begrüßten ihn mit einem durchaus ernst gemeinten Applaus.
„Schön, dass unsere Männer Unterstützung bekommen haben!“ sagte Christine hoch erfreut. Christa grinste mich ganz breit aus dem Alt an und ich grinste breit zurück. Dass ich Tenöse bin, sorgte auch nach ein paar Monaten immer noch für Erheiterung. Auch Tina machte sich mit einem Winken bemerkbar, das ich klarerweise erwiderte. Das war der Wermutstropfen bei meinem Wechsel – die Altistinnen in diesem Chor waren nicht nur wirklich, wirklich gute Sängerinnen, sondern auch eine lustige Truppe, die immer wieder für Gelächter sorgte, während die Tenöre leider viel zu beschäftigt damit waren, mitzuhalten. Manchmal vermisste ich die Mädels schmerzlich.
„Gut, dann fangen wir an. Wir machen heute etwas Neues, könnt ihr bitte die Noten austeilen?“
Wir gingen also gleich mitten rein, ich nicht nur in ein neues Musikstück, sondern auch in eine Mischung aus Frustration und Überraschung. Unser neuer Tenor war ein lyrischer Tenor reinsten Wassers und offensichtlich konnte der Mann auch Noten lesen und vom Blatt singen! Verdammich! Da klangen samtweiche Tiefen und glasklare, sichere Höhen und das Ganze auch noch in einer gut wahrnehmbaren Lautstärke, ohne aufdringlich zu sein. Hatte sich da am Ende ein Profi zu uns verirrt?
An Georgs Gesicht konnte ich die gleiche Überraschung ablesen und mehr als eine Dame drehte sich neugierig um, wer denn da die Ehre des Tenors so gekonnt rettete.
Da ich das Stück noch nicht kannte, brauche ich auch keinen Versuch zu machen, mitzuhalten und hörte meistens nur zu. In mir wuchs die Gewissheit, dass ich hier ziemlich überflüssig geworden war.
In der Pause dann, war ich schnell wie nie draußen und unten, zur Pausenzigarette (auch die Tiefe will gepflegt sein). Meine Frustration hatte ein erhebliches Ausmaß angenommen, ganz zu schweigen von den leichten Vibrationen in meinen Knien. Es wäre sinnlos, zu leugnen, wie sehr ich auf Klang reagierte. Eine schöne Sing- oder Sprechstimme geht über meine Ohren, in mein Gehirn und von da direkt in meine Physis.